Julie oder Die neue Heloise
Sie zu sehen? Ach! euer Lebewohl ist gesagt, ihr seid schon getrennt, Ihr Schicksal wird weniger hart sein, wenn Sie fern von ihr sein werden; Sie werden wenigstens die Freude haben, ihre Sicherheit bewirkt zuhaben. Eilen Sie noch heute fort von hier, den Augenblick; daß Sie nicht ein Opfer von solcher Größe bringen und bringen es zu spät. Zittern Sie, ihren Tod noch zu verursachen, nachdem Sie sich schon für sie dahingegeben! Wie? rief er mit einer Art Wuth, ich soll hinweggehen, ohne sie zu sehen? Wie? Ich soll sie nicht mehr sehen? Nein! Nein! Wir werden beide sterben, wenn es sein muß; der Tod, ich weiß es, wird ihr mit mir nicht hart dünken; aber ich will sie sehen, was auch daraus entstehe; ich will mein Herz, mein Leben zu ihren Füßen lassen, ehe ich mich von mir selbst reiße. Es ist mir nicht schwer geworden, ihm die Thorheit und Grausamkeit eines solchen Vorhabens zu zeigen. Aber dieses „Wie? ich soll sie nicht mehr sehen?" das immer wieder und mit immer schmerzlicherem Tone wiederkehrte, schien Trost wenigstens für die Zukunft zu suchen. Warum, sagte ich ihm, wollen Sie sich Ihr Unglück ärger vorstellen als es ist? Warum Hoffnungen entsagen, die Julie selbst nicht aufgegeben hat? Denken Sie, daß sie sich so von Ihnen hätte trennen können, wenn sie glaubte, daß es für immer wäre? Nein, mein Freund, Sie müssen ja ihr Herz kennen; Sie müssen wissen, wie viel ihr ihre Liebe mehr ist als ihr Leben. Ich fürchte, ich fürchte nur zu sehr (ich fügte diese Worte hinzu, gestehe ich dir), daß sie sie bald Allem vorziehen werde, Glauben Sie also, daß sie hofft, da sie willig ist, zu leben: glauben Sie nur, die Vorsorge, welche ihr die Klugheit eingiebt, ist mehr auf Sie berechnet als es den Anschein hat, und sie nimmt sich nicht weniger Ihretwegen so in Acht als ihrer selbst wegen. Ich langte hierauf deinen letzten Brief hervor, und indem ich ihm die Liebeshoffnungen dieses verblendeten Mädchens, das keine Liebe mehr in sich zu haben wähnt, zeigte, belebte ich die seinigen mit dieser milden Wärme. Die wenigen Zeilen schienen einen lindernden Balsam in seine vergifete Wunde zu träufeln. Ich sah seine Blicke sich sänftigen und seine Augen sich netzen, ich sah Schritt für Schritt seine Verzweiflung in Wehmuth übergehen; und bei den letzten so rührenden Worten, wie dein Herz sie nur sagen kann: „Wir werden nicht lange getrennt leben," zerfloß er in Thränen. Nein, Julie, nein, meine Julie, sagte er mit steigender Stimme und den Brief küssend, wir werden nicht lange getrennt leben; der Himmel wird unser Schicksal auf Erden vereinigen, oder unsre Herzen in dem ewigen Aufenthalte.
Dies war nun die Stimmung, in welcher ich ihn gewünscht hatte. Sein starrer, düsterer Schmerz hatte mich besorgt gemacht. Ich hätte ihn in dieser Gemüthsverfassung nicht von hier fortgelassen; aber sobald ich ihn weinen sah, und deinen geliebten Namen sanft aus seinem Munde kommen hörte, fürchtete ich nicht mehr für sein Leben, denn nichts ist so fern von Zärtlichkeit als die Verzweiflung. In diesem Augenblicke gerieth er in der Bewegung seines Herzens auf einen Einwand, auf den ich nicht gefaßt war. Er sprach von den Umständen, in welchen du dich zu befinden glaubtest, und schwor, lieber tausend Tode zu sterben, als dich in allen den Gefahren, die dir droheten, allein zu lassen. Ich hütete mich, etwas von deinem Zufalle zu erwähnen; ich sagte ihm einfach, daß deine Erwartung wieder getäuscht worden und daß nichts mehr zu hoffen wäre. So wird denn, sagte er mit einem Seufzer, auf Erden sein Denkmal meines Glückes bleiben; es ist verschwunden wie ein Traum, der niemals Wirklichkeit gehabt hatte.
Ich hatte noch den letzten Theil deines Auftrages auszuführen und ich glaubte, daß es nach der Gemeinschaft, in welcher ihr gelebt habt, dabei keines Umschweifs und Heimlichthun bedurfte. Ich würde selbst ein wenig Streit über diesen geringfügigen Gegenstand gar nicht ungern gesehen haben, um dem auszuweichen, welcher sich über den Gegenstand unserer Unterredung immer noch von neuem entspinnen konnte. Ich warf ihm seine Nachlässigkeit in der Besorgung seiner Angelegenheiten vor. Ich sagte ihm, du fürchtest, daß er seit langer Zeit hierin nicht mehr sorgfältig genug sei, und beföhlest ihm einstweilen, bis er es werden würde, sich für dich zu erhalten, besser für seine Bedürfnisse zu sorgen und sich zu dem Ende mit der schwachen Zubuse zu belästigen, welche ich ihm von deiner Seite
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