Julie oder Die neue Heloise
kommen Sie mit ihm allein um acht Uhr zu uns; erwarten Sie mich da; wir wollen verabreden, was zu thun sein wird, um den Unglücklichen zur Abreise zu bewegen und seiner Verzweiflung vorzubeugen.
Ich baue sehr auf seinen Muth und auf unsere Bemühungen; noch mehr auf seine Liebe. Juliens Wille, die Gefahr, in welcher ihr Leben und ihre Ehre schweben, sind Beweggründe, denen er nicht widerstehen wird. Wie dem sei, ich erkläre Ihnen, daß von Hochzeit zwischen uns nicht die Rede sein wird, ehe nicht Julie ruhig ist, und daß nie die Thränen meiner Freundin das Band benetzen werden, welches uns verknüpfen soll. Also, mein Herr, wenn es wahr ist, daß Sie mich lieben, so trifft in diesem Falle Ihr Interesse mit Ihrer Großmuth zusammen, und es ist nicht sowohl eine fremde Angelegenheit, um die es sich handelt, als vielmehr auch Ihre eigene.
Fünfundsechzigster Brief.
Clara an Julie.
Alles ist geschehen; und ungeachtet ihrer Unbesonnenheiten ist meine Julie in Sicherheit. Die Geheimnisse deines Herzens sind in Dunkel begraben. Du bist noch im Schoße deiner Familie und deiner Heimat, geliebt, geehrt, und genießest eines fleckenlosen Rufes und der allgemeinen Achtung. Betrachte nun mit Schauder die Gefahren, in welche dich Scham oder Liebe jagte, indem du bald zu viel und bald zu wenig thatest. Lerne, daß man unvereinbare Gefühle nicht mit einander versöhnen kann und segne den Himmel, bald zu blinde Liebhaberin, bald zu furchtsames Mädchen du, für ein Glück, das wohl noch keiner Andern geschenkt ward.
Ich wollte deinem betrübten Herzen die Schilderung dieses so schmerzlichen, aber so nothwendigen Abschieds ersparen. Du hast sie verlangt, ich habe sie versprochen; ich werde Wort halten, mit allem Freimuth, wie er uns beiden eigen ist, die wir jeden andern Vortheil stets dem ehrlichen Worthalten nachstellen. Lies also, liebe arme Freundin, lies, weil es sein muß; aber mache dir Muth und sei standhaft.
Alle Maßregeln, welche ich genommen hatte, wie ich dir schon gestern berichtete, sind pünktlich befolgt worden. Als ich nach Hause kam, fand ich Herrn von Orbe und Milord Eduard. Ich fing damit an, daß ich dem Letzteren sagte, was wir von seiner heroischen Großmuth wüßten, und gab ihm zu erkennen, wie sehr wir beide davon durchdrungen wären. Hierauf setzte ich ihnen auseinander, welche gewichtigen Gründe wir hätten, deinen Freund schleunig zu entfernen, und wie schwierig es mir doch schiene, ihn dazu zu bewegen, Milord sah das Alles vollkommen ein und bezeigte sich sehr betrübt über die Wirkung, welche sein unüberlegter Eifer hervorgebracht hatte. Sie räumten ein, daß es von Wichtigkeit wäre, die Entfernung deines Freundes zu beeilen und den ersten Augenblick seiner Einwilligung wahrzunehmen, um neuer Unschlüssigkeit zuvorzukommen und ihn der Gefahr, die ihm hier am Orte unablässig droht, zu entreißen. Ich wollte Herrn von Orbe das Geschäft übertragen, die erforderlichen Vorbereitungen ohne sein Wissen zu treffen; aber Milord erklärte, daß dies seine Sache sei und nahm Alles über sich. Er versprach, daß seine Chaise heute Vormittag um 11 Uhr bereit sein sollte, daß er ihn so weit als nöthig begleiten würde, und machte den Vorschlag, ihn zuerst unter irgend einem andern Vorwande zu entführen, um ihn mehr mit Muße zu dem nothwendigen Schritte bestimmen zu können. Dieses Verfahren schien mir nicht ehrlich genug für uns und für unsern Freund; auch wollte ich ihn nicht entfernt von uns den ersten Wirkungen einer Verzweiflung aussetzen, die leichter den Augen Milord's als den meinigen entgehen konnte. Aus demselben Grunde nahm ich auch den Vorschlag nicht an, welchen Milord machte, ihm die Sache selber vorzutragen, um ihn zur Abreise zu vermögen. Ich sah, wie zarter Natur diese Verhandlung sein müßte und wollte sie Niemandem anvertrauen als mir selbst; denn ich kenne die empfindliche Stelle seines Herzens genauer und weiß, daß Männer bei solchen Angelegenheiten immer eine gewisse Trockenheit haben, die eine Frau besser zu mildern versteht. Indessen sah ich auch ein, daß Milords Beistand nicht unnütz sein würde, um den Weg zu bahnen. Ich bedachte, von welcher Wirkung die Reden eines gefühlvollen Mannes, der sich übrigens für einenbloßen Philosophen hält, auf ein tugendhaftes Herz sein müßten, und wie viel Wärme die Freundesstimme den Ermahnungen des Weisen einhauchen könnte.
Ich bat also Milord Eduard, den Abend mit ihm zuzubringen, und, ohne etwas zu sagen, was
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