Julie oder Die neue Heloise
im ersten Augenblick niederschmettern, um sodann die Milderungen eintreten zu lassen, als seine Schmerzen ohne Noth vervielfältigen und ihm tausend Schläge statt eines einzigen versetzen. Ich nahm also einen ernsteren Ton an, und sagte, indem ich ihn fest ansah: Freund, kennen Sie die Grenzen des Muthes und der Tugend in einer starkenSeele, und glauben Sie, daß es eine übermenschliche Kraftanstrengung sei, dem zu entsagen, was man liebt? Augenblicklich sprang er auf wie ein Rasender; dann seine Hände zusammenschlagend und sie so gefaltet an seine Stirn dringend rief er: Ich verstehe Sie; Julie ist todt, Julie ist todt, wiederholte er mit einem Tone, bei dem es mich kalt überlief: ich sehe es, Sie wollen mich hinhalten, Sie wollen mich schonen. Thörichtes Bemühen, das mir den Tod nur langsamer, grausamer macht!
Obgleich erschrocken über seine plötzliche Bewegung, errieth ich doch im Augenblicke die Ursache und begriff wohl, wie die Nachricht von deiner Krankheit, Milord Eduard's Moralpredigten, die Aufforderung heute Morgen zu mir zu kommen, meine ausweichenden Antworten und meine Fragen ihm zusammen diesen falschen Schrecken verursacht hatten. Ich erkannte auch sogleich, welchen Nutzen ich von seinem Irrthume ziehen könnte, wenn ich ihn einige Augenblicke darin ließ, aber ich konnte mich zu dieser Barbarei nicht entschließen. Der Gedanke des Todes dessen, was man liebt, ist so schrecklich, daß es keinen giebt, der nicht an seiner Stelle süß wäre, und ich nahm geschwind diesen Vortheil wahr. Sie werden Sie vielleicht nicht wiedersehen, sagte ich; aber sie lebt und liebt Sie. Ha! wenn Julie todt wäre, würde dann Clara Ihnen etwas zu sagen haben? Danken Sie dem Himmel, der Ihnen in Ihrem Unglücke Leiden erspart, mit denen er Sie überhäufen könnte. Er war so erstaunt, so erschüttert, so verwirrt, daß ich, nachdem ich ihn wieder hatte niedersitzen lassen, Zeit fand, ihm Alles, was er wissen mußte, der Ordnung nach vorzutragen; ich stellte Milord Eduard's Benehmen in das schönste Licht, um in seinem edlen Herzen dem Schmerze durch den Reiz der Erkenntlichkeit eine Diversion zu machen.
Dies, mein Lieber, fuhr ich fort, ist die Lage der Sache. Julie schwebt am Rande des Abgrundes; öffentliche Schmach, Unwillen ihrer Familie, Mißhandlungen von Seiten eines heftigen Vaters und ihre eigene Verzweiflung brechen über sie herein. Die Gefahr wächst mit jedem Augenblicke; das Messer, von der Hand ihres Vaters oder ihrer eigenen, ist jeden Augenblick nur zwei Finger von ihrem Herzen entfernt. Ein einziges Mittel ist noch übrig, um allem Unglücke vorzubeugen und dieses Mittel hängt allein von Ihnen ab. Das Schicksal Ihrer Geliebten liegt in Ihren Händen. Sehen Sie zu, ob Sie den Muth haben, sie zu retten, indem Sie sich von ihr entfernen, da es ihr auch ohnehin nicht mehr verstattet ist, Sie zu sehen, oder ob Sie lieber Urheber und Zeuge ihres Unterganges und ihrer Schmach sein wollen. Nachdem sie Alles für Sie gethan hat, wird sie nun erfahren, was Ihr Herz für sie thun kann. Ist es ein Wunder, daß ihre Gesundheit ihren Leiden erliegt? Sie sind in Sorge um ihr Leben, wissen Sie denn, daß Sie Herr darüber sind?
Er hörte mich an, ohne mich zu unterbrechen; sobald er begriff, um was es sich handelte, sah ich an ihm die lebhafte Geberde, den funkelnden Blick, die scheue aber zuckende Miene, welche er zuvor gehabt, verschwinden, Bestürmung und Trübsinn überzog mit dunklem Schleier sein Gesicht; sein düsteres Auge und seine erloschenen Züge kündigten die Niedergeschlagenheit seines Herzens an: kaum hatte er die Kraft, den Mund aufzuthun, um mir zu antworten. Es muß geschieden sein, sagte er mit einem Tone, den ein Anderer für ruhig gehalten haben würde; gut! ich werde gehen. Habe ich nicht genug gelebt? Nein, gewiß nicht! antwortete ich sogleich; Sie müssen leben für Die, welche Sie liebt; haben Sie vergessen, daß ihre Tage von den Ihrigen abhängen? Man müßte sie also ungetrennt lassen, fiel er rasch ein; sie konnte es, sie kann es noch. Ich that, als hörte ich die letzten Worte nicht, und suchte einige Hoffnung in ihm anzuregen, der seine Seele jedoch nicht zugänglich war; da trat Hans ein, und brachte mir gute Nachricht. In dem Augenblick der Freude, welche er darüber empfand, rief er aus: Ha! sie lebe, sie sei glücklich .... wenn es möglich ist. Ich will ihr nur mein letztes Lebewohl sagen, und dann gehe ich. Vergessen Sie, sagte ich, daß es ihr nicht mehr erlaubt ist,
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