Julie oder Die neue Heloise
ich; mein Entschluß steht unerschütterlich fest; es ist meine Pflicht und nichts soll mich davon ablenken. Meine unselige Nachgiebigkeit hat dein Verderben herbeigeführt; dem Schicksal muß das meinige sein, und da wir von Kindheit auf unzertrennlich waren, meine Julie, wollen wir es auch bis zum Grabe sein.
Du wirft in diesem Plane, sehe ich voraus, vielen Leichtsinn finden, aber im Grunde ist er doch vernünftiger, als es scheint, und ich habe nicht dieselben Gründe, unschlüssig zu sein, wie du. Erstlich, was meine Familie betrifft, so verlasse ich, wenn ich einen willfährigen Vater verlasse, auch einen ziemlich unbekümmerten, der seine Kinder thun läßt, was sie wollen, mehr aus Lässigkeit als aus Zärtlichkeit, denn du weißt, daß ihn die europäischen Angelegenheiten weit mehr beschäftigen als seine eigenen, und daß ihm seine Tochter lange nicht so viel gilt als die Pragmatische Sanktion. Außerdem bin ich nicht, wie du, das einzige Kind, und mit den Kindern, die er behält, wird er kaum wissen, ob ihm eines fehlt.
Ich lasse eine Heirat, die zum Schlusse reif ist, im Stiche?
Manco male“[Italienische Redensart; etwa: „ei, und warum nicht?“; „nicht übel“; „auch gut“; „immerhin“ u. dergl.]
, meine Liebe; Herr von Orbe muß, wenn er mich lieb hat, sich zu trösten suchen. Was mich betrifft, so schätze ich zwar seinen Charakter, bin nicht ohne Anhänglichkeit für ihn, und so wäre mir um den braven Mann leid, aber neben meiner Julie ist er mir nichts. Sage mir, Kind, hat das Gemüth ein Geschlecht? In der That, ich fühle nichts davon an dem meinigen. Ich kann Phantasien haben, aber recht wenig Liebe. Ein Ehemann mag recht gut für mich sein, aber er wird nie mehr für mich sein als ein Mann, und einen solchen kann ich, frei noch und leidlich wie ich bin, überall in der Welt finden.
Beachte wohl, Cousine, daß, wenn auch ich keinen Anstand nehme, damit nicht gesagt ist, daß auch du keinen nehmen sollst, oder daß ich dir anrathen wolle, den Entschluß zu fassen, welchen ich ergreisfn würde, wenn du fortgingest. Der Unterschied zwischen uns beiden ist groß und deine Pflichten sind viel strenger bindend. Du weißt auch, daß eine fast einzige Zuneigung mein Herz ausfüllt und alle andere Gefühle so aufzehrt, daß sie wie nicht da sind. Eine unwiderstehliche süße Gewohnheit fesselt mich an dich von Kindheit auf; ich habe nur dich vollkommen lieb, und wenn ich, um mit dir zu gehen, irgend ein Band zerreißen muß, so wird mir dein Beispiel Muth machen. Ich werde mir sagen, ich ahme Julien nach, und , werde mich so gerechtfertigt dünken.
Billet.
von Julie an Clara.
Ich verstehe dich, unvergleichliche Freundin, und ich danke dir. Einmal wenigstens werde ich meine Pflicht gethan haben, und nicht ganz deiner unwerth sein.
Sechster Brief.
Julie an Milord Eduard.
Ihr Brief, Milord. durchdringt mich mit Rührung und Bewunderung. Der Freund, den Sie Ihres Schutzes würdigen, wird nicht weniger dafür erkenntlich sein, wenn er Alles erfahren wird, was Sie für uns haben thun wollen. Ach! nur der Unglückliche ist fähig, den ganzen Werth einer wohlthätigen Seele zu fühlen. Wir haben nur schon zu viel Gelegenheit gehabt, die Ihrige würdigen zu lernen, und Ihre heroischen Tugenden werden uns stets rühren, aber sie überraschen uns nicht mehr.
Wie süß wäre es mir, unter der Obhut eines so großmüthigen Freundes glücklich zu sein, und seinen Wohlthaten das Glück zu verdanken, das mir mein Glück versagt hat! Aber Milord, ich sehe zu meiner Verzweiflung, daß es Ihre guten Absichten vereitelt; mein grausames Schicksal ist stärker als Ihr Eifer, und das holde Bild der Güter, welche Sie mir anbieten, dient nur dazu, mir die Entbehrung derselben desto empfindlicher zu machen. Sie wollen zwei verfolgten Liebenden einen angenehmen und sichern Zufluchtsort öffnen, dort ihre Liebe legitim, ihr Bündniß zu einem geweihten machen, und ich weiß, daß ich unter Ihrem Schutze leicht den Verfolgungen einer erzürnten Familie entgehen würde. Das ist viel für die Liebe; ist es aber genug für den Seelenfrieden? Nein, wenn Sie wollen, daß ich ruhig und zufrieden lebe, so geben Sie mir einen noch schirmenderen Zufluchtsort, wo man vor der Schande und der Reue sicher ist. Sie kommen unseren Bedürfnissen entgegen, und berauben sich aus beispiellosem Großmuth zu unserem Unterhalte eines Theiles der Güter, welche Ihnen den Ihrigen gewähren. Reicher, in geachteterer Stellung durch
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