Julie oder Die neue Heloise
Scheinvernunft des Lasters aufnimmt, als mit den übermüthigen Verirrungen unbedachter Thoren, und eigentlich hinreichen müßte, um das Leben des vernünftigen Menschen auf die Bahn des Guten zu lenken, nämlich diese, daß die Quelle des Glückes ganz weder in dem begehrten Gegenstande, noch in dem Herzen, welches ihn besitzt, liegt, sondern in dem Verhältnisse beider zu einander, und daß ebenso wie nicht alle Gegenstände, deren wir begehren, geeignet sind, Glück zu spenden, auch nicht alle Zustände des Herzens geeignet sind, es zu empfinden. Wenn die lauterste Seele für sich allein nicht genug ist, um glücklich zu machen, so ist es doch noch gewisser, daß alle Wonnen der Welt nicht im Stande sein werden, ein verderbtes Herz zu beglücken; denn es ist von beiden Seiten eine Vorbereitung nöthig, ein gewisses Zusammenwirken, aus welchem erst jenes köstliche Gefühl entspringt, das alle gefühlvollen Wesen suchen und das der falsche Weise niemals erfährt, der bei dem Vergnügen des Augenblicks stehen bleibt, weil er ein dauerhaftes Glück nicht kennt. Was würde es daher nützen, einen dieser Vortheile auf Kosten des anderen zu erwerben, nach außen zu gewinnen, um im Innern desto mehr zu verlieren, und sich die Mittel zu verschaffen, glücklich zu sein, indem man die Kunst einbüßt, sie anzuwenden? Ist es nicht noch besser, wenn nur eines von beiden vergönnt ist, dasjenige, welches uns das Schicksal wohl wieder schenken kann, demjenigen zu opfern, welches man nicht wiedererlangt,
wenn man es einmal verloren hat? Wer soll das besser wissen als ich, die ich nichts erreicht habe, als daß ich mir die Freuden meines Lebens vergiftete, indem ich ihnen die Krone aufzusetzen wähnte? Laß also die Bösen nur reden, welche ihr Glück zeigen und ihr Herz verbergen, und sei gewiß, wenn es auf Erden ein einziges Beispiel von wahrem Glück giebt, so wird es in einem guten Menschen zu finden sein. Dir hat der Himmel den glücklichen Hang verliehen zu Allem, was gut und recht ist: gieb denn nur deinen eigenen Wünschen Gehör, folge nur deinen natürlichen Neigungen; denke vorzüglich an unsere erste Liebe; so lange jene reinen, köstlichen Augenblicke in deinem Gedächtnisse leben werden, ist es nicht möglich, daß du aufhörest, das zu lieben, was sie dir so süß machte, daß der Reiz des sittlich Schönen in deiner Seele ersterbe, oder daß du je daran denkest, deine Julie durch Mittel erlangen zu wolllen, die deiner unwürdig sind. Was wäre an einem Gute zu genießen, davon man den Geschmack verloren? Nein, um die Geliebte besitzen zu können, muß man sich dasselbe Herz erhalten, mit welchem man sie geliebt hat.
Da bin ich nun bei meinem zweiten Punkte; denn ich habe, wie du siehst, das Handwerk nicht verlernt. Mein Freund, auch ohne Liebe ist der hohe Muth einer starken Seele möglich, aber eine Liebe wie die unsrige belebt ihn und erhält ihn, so lange sie brennt, und wenn sie erlischt, so versiecht er und das abgenutzte Herz ist zu nichts mehr gut. Sage, was wären wir, wenn wir nicht mehr liebten? Ach, wäre es nicht besser, nicht mehr da zu sein, als zu sein, ohne zu fühlen? und könntest du dich entschließen, das nüchterne Leben eines gewöhnlichen Menschen auf Erden hinzuschleppen, nachdem du alle Entzückungen genossen hast, die nur eine menschliche Seele hinreißen können? Du wirst nun in großen Städten wohnen, wo dein Aueßeres und dein Alter mehr noch als die Vorzüge deines Geistes deiner Treue tausend Fallen stellen werden; die einschmeichelnde Coquetterie wird die Sprache der Zärtlichkeit annehmen und dir gefallen, ohne dich zu täuschen; du wirst nicht Liebe suchen, aber Lust; diese von jener getrennt wirst du genießen, und wirst sie nicht wiedererkennen. Ich weiß nicht, ob du wo anders Juliens Herz wiederfinden wirst, aber das sage ich dir, du wirst bei keiner andern je das wieder finden, was du bei ihr empfunden hast. Die Erschöpfung deiner Seele wird dir das Loos ankündigen, das ich dir vorher gesagt habe; Trübsinn und Verdrossenheit werden dich im Schooße frivoler Ergötzungen erdrücken; das Andenken unserer ersten Liebe wird dich wider Willen verfolgen: mein Bild, hundertmal schöner, als ich jemals war, wird dich unversehens überfallen. Im Augenblicke wird der Schleier des Ekels alle deine Freuden bedecken und tausend schmerzliche Stacheln werden sich in dein Herz bohren. Mein Geliebter, o mein süßer Freund, ach, wenn du mich je vergissest .... weh! was werde ich thun?
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