Julie oder Die neue Heloise
sich so oft in uns die Liebe der erhabenen Tugend entzündete, dort wirst du das ewige Bild des wahren Schönen erblicken, dessen Betrachtung uns mit heiliger Begeisterung erfüllt und das unsere Leidenschaft unaufhörlich beflecken, ohne es je auslöschen zu können
[Die wahre Philosophie für Liebende ist bei Plato zu finden; so lange der Zauber währt, haben sie keine andere. Wer bewegten Gemütes ist, kann von diesem Philosophen nicht los: einem kalten Leser ist er unausstehlich.]
. Erinnere dich der köstlichen Thränen, die aus unsren Augen flossen, des Pochens, welches unsere Herzen fast erstickte, der Verzückung, die uns über uns selbst erhob, bei den Lebensgeschichten der Helden, die das Laster unentschuldbar machen und die Ehre der Menschheit sind. Willst du wissen, was wahrhaft wünschenswerth ist, Glück oder Tugend? Denk nur welchem von Beiden das Herz den Vorzug giebt, wenn es unparteiisch wählt. Denke, was uns beim Lesen der Geschichte anzieht und reizt. Ist es dir jemals in den Sinn gekommen, dir die Schätze des Krösus, oder Cäsar's Ruhm, oder Nero's Macht oder die Freuden Heliogabal's zu wünschen? Wenn diese glücklich waren, warum versetzten dich deine Wünsche nie an ihre Stelle? Nein, sie waren nicht glücklich, und das hast du gefühlt; sie waren schlecht und verächtlich, und ein schlichter Mensch, der Glück hat, macht Niemanden Neid. Welche Menschen betrachtetest du denn mit dem meisten Vergnügen? Welches Beispiel verehrtest du? Welchem hättest du am liebsten mögen ähnlich sein? Unbegreiflicher Reiz der Schönheit, die nicht stirbt! Es war der Athenienser, der den Schierlingsbecher trinkt, Brutus, der für sein Vaterland stirbt, Regulus in seinen Martern, Cato, der sein eigenes Herz durchbohrt, alle diese tugendhaften Unglücklichen waren es, die deinen Neid erregten, und du fühltest im Grunde deines Herzens die wahre Glückseligkeit, welche sich unter ihren scheinbaren Leiden verbarg. Glaube nicht, daß dieses Gefühl nur dir eigenthümlich war; alle Menschen fühlen ebenso und oftmals wider ihren Willen. Das göttliche Urbild, welches Jeder von uns in sich trägt, bezaubert uns trotz unserer Unlust: sobald uns die Leidenschaft vergönnt, es nur zu sehen, wollen wir ihm ähnlich werden, und der schlechteste Mensch, wenn er sich anders machen könnte, würde ein guter Mensch sein wollen.
Verzeihe mir diese Begeisterung, liebenswürdiger Freund; du weißt, daß ich sie von dir habe, und die Liebe, der ich sie verdanke, will sie dir zurückgeben. Nicht will ich dir hier deine eigenen Maximen lehren, sondern nur einen Augenblick auf dich die Anwendung davon machen, und sehen, was in ihnen Brauchbares für dich liegen mag; denn jetzt ist es Zeit, das auszuüben, was du zu lehren wußtest, und zu zeigen, wie man nach seinen Grundsätzen handelt. Wenn nicht davon die Rede ist, ein Cato oder Regulus zu sein, so muß doch Jeder sein Vaterland lieben, rechtschaffen sein und muthig, Wort halten, auch auf Gefahr seines Lebens. Die Privattugenden sind oft um so erhabener, als sie nicht nach dem Beifall Anderer streben, sondern nur nach dem Zeugniß des eigenen Gewissens, und dem Gerechten ist sein Bewußtsein so viel werth, als das Lob der ganzen Welt. So wirst du fühlen, daß die Größe allen Ständen eignet, und daß Niemand glücklich sein kann, wenn er nicht seiner eigenen Achtung genießt; denn wenn der wahre Seelengenuß in der Betrachtung des Schönen liegt, wie kanndieses der Schlechte im Anderen lieben, ohne gezwungen zu sein, sich selbst zu hassen?
Ich fürchte nicht, daß dich die groben sinnlichen Genüsse verführen; das sind keine sehr gefährlichen Fallstricke für ein empfindsames Herz; für ein solches müssen feinere sein. Aber ich fürchte die Maximen und Lehren der Welt; ich fürchte die entsetzliche Gewalt, welche das allgemeine und beständige Beispiel des Lasters haben muß; ich fürchte die schlauen Sophismen, mit denen es sich schminkt; ich fürchte endlich, daß dein Herz selbst dich hintergehen und dich weniger schwierig machen möchte in der Wahl der Mittel, um zu einem Ansehen zu gelangen, das du allerdings verachten würdest, wenn nicht unsere Verbindung die Frucht davon sein könnte.
Ich warne dich, mein Freund, vor diesen Gefahren; deine Weisheit wird das Uebrige thun: denn um sich davor zu schützen, ist schon viel gewonnen, wenn man sie vorauszusehen gewußt hat. Ich will nur noch eine Bemerkung hinzufügen, die es meiner Meinung nach ebensowohl mit der
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