Julie oder Die neue Heloise
eine ungewisse Hülfe und verdächtigen Trost. Zärtlich geliebte Freundin meines Herzens, ach, ach, auf was für Wehe muß ich gefaßt sein, wenn es meinem vergangenen Glücke die Waage halten soll!
Laß dich durch diese Schwermuth nicht beunruhigen, ich beschwöre dich: sie ist die vorübergehende Wirkung des Alleinseins und der Betrachtungen unterweges. Fürchte keine Rückkehr meiner vorigen Schwachheit: mein Herz ist in deiner Hand, meine Julie; und da du es hältst, wird es sich nicht niederschlagen lassen. Einer der tröstlichen Gedanken, welche die Frucht deines letzten Briefes sind, ist der, daß ich mich jetzt durch eine doppelte Kraft getragen fühle; und wenn selbst die Liebe die meinige vernichtet hätte, würde ich doch noch dabei gewinnen, denn der Muth, welcher mir von dir kommt, hält mich viel besser aufrecht, als ich es selbst vermöchte. Ich bin überzeugt, es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Die Menschenseelen wollen gepaart sein, um zu ihrem vollen Werthe zu gelangen, und die vereinigte Kraft der Freunde, wie die der Platten eines künstlichen Magnets, ist unvergleichlich größer als die Summe der vereinzelten Kräfte. Göttliche Freundschaft, das ist dein Triumph. Was aber ist die bloße Freundschaft gegen diese vollkommene Vereinigung, die zu der ganzen Wirkungskraft der Freundschaft Bande, die hundertmal heiliger sind, hinzufügt? Wo sind sie, jene groben Seelen, welche die Entzückungen der Liebe für nichts als ein Fieber der Sinne halten, eine Brunst der verderbten Natur? Sie sollen kommen, sollen sehen, sollen fühlen, was im Grunde meines Herzens vorgeht, sollen einen unglücklichen Liebenden sehen, getrennt von dem, was er liebt, ungewiß, ob er es je wieder sehen wird, ohne Hoffnung, sein verlorenes Glück wieder zu erlangen, und dennoch beseelt von dem unsterblichen Feuer, das er in deinen Augen auffing, und das dein hoher Sinn genährt hat; bereit, dem Geschicke zu trotzen, seine Widerwärtigkeit zu ertragen, selbst sich deiner beraubt zu sehen und aus Tugenden, die du ihm eingeflößt hast, eine würdige Zierde des anbetungswerthen Bildes zu machen, welches nieaus seiner Seele verlöschen wird. Julie, o was wäre ich gewesen ohne dich? Die kalte Vernunft hätte mich vielleicht aufgeklärt; ein lauer Bewunderer des Guten, würde ich es wenigstens in Anderen geliebt haben. Ich werde aber mehr thun, ich werde es mit Eifer auszuüben streben, und durchdrungen von deinen weisen Lehren, werde ich so handeln, daß Die einst sprechen, die uns gekannt haben: O, was für Menschen würden wir alle sein, wenn die Welt voll wäre von Julien, und von Herzen, die sie zu lieben wüßten!
Als ich unterweges mir deinen letzten Brief in Gedanken wiederholte, nahm ich mir vor, jetzt da ich keine Weisung mehr aus deinem Munde erhalten kann, alle Briefe, die du mir geschrieben hast, in eine Sammlung zu bringen. Obgleich keiner darunter ist, den ich nicht auswendig wüßte, glaube mir, mag ich sie doch immer gern wieder und wieder von vorn lesen, wäre es auch nur um die Züge von dieser geliebten Hand zu sehen, die mich allein glücklich machen kann. Aber unvermerkt nutzt sich das Papier ab, und ehe sie zerrissen sind, will ich sie alle in ein reines Buch schreiben, das ich mir ausdrücklich dazu ausgesucht habe. Es ist ziemlich dick, aber ich denke an die Zukunft und hoffe nicht so jung zu sterben, daß ich an dem einen Bande genug hätte. Ich bestimme die Abende zu dieser reizenden Beschäftigung, und ich werde langsam schreiben, um länger daran zu haben. Diese kostbare Sammlung will ich im Leben nicht von mir lassen: sie wird mein Handbuch sein in der Welt, in die ich einzutreten im Begriff bin: sie wird das Gegengift sein wider die bösen Grundsätze, die man in ihr einathmet; sie wird mich trösten in meinen Leiden; sie wird mich vor Fehltritten bewahren oder mich bessern; sie wird mich zurechtweisen, so lange ich jung bin; sie wird mich erbauen zu allen Zeiten, und diese Liebesbriefe, meine ich, werden die ersten sein, von denen ein solcher Gebrauch gemacht wird.
Was den letzten betrifft, den ich gegenwärtig vor Augen habe, so schön er mir scheint, finde ich doch darin eine Stelle auszuscheiden. Gewiß schon ein seltsames Gericht! aber was es noch seltsamer macht, es trifft gerade die Stelle, welche von dir handelt, und ich mache es dir zum Vorwurf, daß es dir auch nur einfallen konnte, sie zu schreiben. Was redest du mir von Treue, von Beständigkeit? Ehedem kanntest du besser
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