Julie oder Die neue Heloise
verbietet, sie zu sehen und ihr zu schreiben? Nicht die Qual entfernt sie dadurch von sich, ach! nur den Tröster. Warum muß der Verlust einer zärtlichen Mutter sie des noch zärtlicheren Freundes berauben? Glaubt sie ihr Leiden zu lindern, indem sie es vervielfältigt? O Liebe, geht es an, auf deine Kosten die Natur zu rächen?
Nein, nein! es ist umsonst, daß sie sich vornimmt, mich zu vergessen. Kann sich denn ihr zärtliches Herz von dem meinen trennen? Bleibt es nicht wider ihren Willen mein? All das, was wir einer durch den Andern genossen haben, ließe sich vergessen? Und kann man sich sein erinnern, ohne es von Neuem zu empfinden? Die sieghafte Liebe machte sie unglücklich, die besiegte wird sie nur noch beklagenswerther machen. Sie wird ihre Tage in Schmerz hinbringen, zugleich gefoltert von vergeblicher Reue und von vergeblichen Wünschen, ohne je weder die Liebe noch die Tugend zufriedenstellen zu können.
Glauben Sie indessen nicht, daß ich, weil ich ihren Irrthum bedauere, mich deswegen weniger durch ihn gebunden achte. Nach so vielen Opfern ist es zu spät, daß man noch lerne ungehorsam zu sein. Sie befiehlt, das ist mir genug; sie soll nicht wieder von mir hören. Stellen Sie sich vor, wie schrecklich mein Loos ist. Nicht das istmeine größte Verzweiflung, daß ich auf sie verzichten muß. Ach! in ihrem Herzen ist der Sitz meiner heftigsten Schmerzen und ihr Mißgeschick macht mich unglücklicher als meines. Sie, die sie mehr als Alles liebt, die Sie allein, nächst mir, sie recht zu lieben wissen, Clara, liebenswürdige Clara, Sie und das einzige Gut, das ihr bleibt. Es ist kostbar genug, um ihr den Verlust aller übrigen erträglich zu machen. Entschädigen Sie sie für den Trost, der ihr geraubt ist und für den, welchen sie von sich weist; lassen Sie die heilige Freundschaft ihr Alles ersetzen, die Zärtlichkeit der Mutter, die Zärtlichkeit des Geliebten, alle die holden Gefühle, die sie beglücken sollten. Möge sie glücklich sein, wenn es möglich ist, um jeden Preis. Möge sie den Frieden und die Ruhe wieder erlangen, deren ich sie beraubt habe; ich werde dann die Qualen weniger fühlen, die mir von ihr hinterblieben sind. Da ich in meinen eigenen Augen nichts mehr bin, da es nun einmal mein Loos ist, immerfort für sie zu sterben, betrachte sie mich denn als nicht mehr seiend, ich willige darein, wenn dieser Gedanke sie ruhiger macht. Möchte sie in Ihren Händen ihre früheren Tugenden, ihr Glück wiederfinden können! möchte sie noch jetzt durch Ihre Sorgfalt das werden, was sie ohne mich gewesen wäre!
Ach! sie war Tochter und hat keine Mutter mehr. Das ist der Verlust, der nicht wieder einzubringen ist und über den man sich nimmer tröstet, wenn man einmal Ursache gefunden hat, ihn sich zur Schuld zu rechnen. Ihr aufgeregtes Gewissen fordert von ihr die zärtliche und die geliebte Mutter, und in ihrem heftigen Schmerz gesellt sich Gewissensunruhe zu der Betrübniß. O Julie, du, du mußtest mit so schrecklichen Seelenzuständen bekannt werden? Sie, die Sie Zeugin der Krankheit und der letzten Augenblicke dieser unglücklichen Mutter waren, ich bitte, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir, was ich davon zu denken habe. Zerreißen Sie mir das Herz, wenn ich schuldig bin. Wenn der Schmerz über unsere Fehltritte es in's Grab gestürzt hat, so sind wir beide Ungeheuer, nicht werth zu leben; es ist Frevel, nur zu denken an ein so unheilschwangres Band, Frevel, das Licht des Tages zu sehen. Nein, ich wage es zu glauben, eine so reine Glut hat keine solche schwarzen Folgen gehabt. Die Liebe flößte uns zu edle Gefühle ein, um daraus Schandthaten zu gebären, deren nur entartete Seelen fähig sind. Der Himmel, könnte der Himmel ungerecht sein? und sie, die ihr Glück den Urhebern ihrer Tage zu opfern fähig war, verdiente sie Schuld an deren Tode zu sein?
Siebenter Brief.
Antwort.
Wie wäre es möglich, Sie weniger zu lieben, da man Sie jeden Tag mehr achten muß? Wie könnten mir meine alten Gefühle für Sie verloren gehen, während Sie sich jeden Tag Anspruch auf neue erwerben? Nein, mein theurer und würdiger Freund, Alles, was wir einander von früher Jugend auf gewesen sind, werden wir uns unser Leben lang bleiben, und wenn unsere gegenseitige Anhänglichkeit nicht noch größer wird, so geschieht dies nur, weil sie nicht noch größer werden kann. Der einzige Unterschied ist, daß ich Sie liebte wie einen Bruder, und daß ich Sie jetzt liebe wie mein Kind, denn obgleich wir
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