Julie oder Die neue Heloise
beiden Herzen ihre Kraft aufboten, sich inniger zu vereinigen im Augenblicke des traurigen Scheidens; man sah, daß Mutter und Tochter nichts beschäftigte als das Weh, sich von einander gerissen zu sehen, und daß Leben oder Tod ihnen gleichgültig gewesen wäre, wenn sie nur mit einander hätten bleiben oder scheiden können.
Lassen Sie sich also durch Juliens finstere Gedanken nicht im entferntesten bestechen, und seien Sie überzeugt, daß Alles, was man von menschlicher Hülfe und von Herzenstrost erwarten kann, von ihrer Seite dazu gewirkt hat, den Fortschritt der Krankheit ihrer Mutter zu hemmen, und daß zuverlässig ihre Zärtlichkeit und ihre Pflege sie uns länger erhalten haben, als es ohnedem möglich gewesen wäre. Mein, Tante selbst hat mir hundertmal gesagt, daß ihre letzten Tage ihr die süßesten Augenblicke ihres Lebens gewährten, und daß zu ihrem Glücke nichts fehlte als das Glück ihrer Tochter.
Wenn man ihren Verlust dem Kummer zuschreiben müßte, so liegt dessen Ursache entfernter, und müßte ihrem Gatten allein beigemessen werden. Lange unbeständig und flatterhaft, verschwendete er das Feuer seiner Jugend an tausend Gegenstände, die weniger werth waren zu gefallen, als seine tugendhafte Gattin, und als das Alter ihn zu ihr zurückgeführt hatte, behandelte er sie mit jener gewaltthätigen Härte, durch welche untreue Ehemänner ihre Fehler zu vergrößern pflegen. Meine arme Cousine hat darunter nicht wenig gelitten. Leerer Adelsstolz und die Schroffheit seines Charakters haben ihr Unglück und das Ihrige herbeigeführt. Die Mutter, die sich immer zu Ihnen hingezogen fühlte, und die Juliens Liebe erst bemerkte, als es zu spät war, um sie zu tilgen, trug lange im Stillen den Schmerz mit sich herum, weder die Neigung ihrer Tochter noch die Hartnäckigkeit ihres Gatten besiegen zu können, und selbst ursprünglich an einem Uebel Schuld zu sein, das sie nicht mehr heilen konnte. Als sie Ihre Briefe gefunden hatte und nun sah, wie weit Sie in dem Mißbrauche ihres Vertrauens gegangen waren, fürchtete sie Alles zu verderben, indem sie Alles zu retten wünschte, und das Leben ihrer Tochter in Gefahr zu setzen, um ihre Ehre wiederherzustellen. Sie sondirte ihren Mann mehrmals vergeblich; mehrmals war sie im Begriff, einen vollständigen Aufschluß zu wagen und ihm den ganzen Umfang seiner Pflicht zu zeigen: die Furcht vor ihm und ihr schüchternes Wesen hielten sie immer wieder zurück. Sie schob auf, solange sie sprechen konnte; als sie endlich wollte, war es zu spät; die Kräfte gebrachen ihr; sie nahm das unselige Geheimniß mit hinweg. Und ich, die ich die Gemüthsart dieses harten Mannes kenne, nicht aber weiß, wie weit die natürlichen Gefühle sie zu mäßigen vermöchten, athme auf, daß ich wenigstens Juliens Leben in Sicherheit sehe.
Das Alles ist ihr nicht fremd; aber soll ich Ihnen sagen, was ichvon ihren anscheinenden Gewissensbissen denke? Die Liebe ist sinnreicher als sie. Von dem Schmerze um ihre Mutter durchdrungen, hätte sie Sie gern vergessen, und die Liebe stört ihr Gewissen auf, um ihr Gelegenheit zu geben, an Sie zu denken. Die Liebe will, daß Juliens Thränen nicht ohne Bezug auf den geliebten Gegenstand seien. Julie wagt nicht mehr, sich mit ihm direct zu beschäftigen, die Liebe zwingt sie, es wenigstens auf dem Umwege der Reue zu thun. Die Liebe täuscht sie so künstlich, daß Julie lieber noch mehr leiden will, nur daß Sie bei ihrem Kummer betheiligt seien. Ihr Herz kann vielleicht diese Umwege des ihrigen nicht begreifen, aber sie sind nichts desto minder natürlich; denn euer beider Liebe, obwohl gleich an Stärke, ist doch nicht gleich in ihren Wirkungen: die Ihrige ist aufschäumend, heftig, die Juliens sanft und zärtlich; Ihre Gefühle machen sich mit Gewalt nach außen Luft, die ihrigen kehren sich gegen sie zurück und durchdringen das innerste Wesen ihrer Seele, das sie allmählig angreifen und verändern. Die Liebe befeuert und hebt Ihr Herz; das ihrige beklemmt und ermattet sie: alle seine Federn lassen nach, seine Kraft ist zu Nichte, sein Muth ist erloschen, seine Tugend ist dahin. Nicht vernichtet sind so viele edle Kräfte, aber gelähmt; ein kritischer Augenblick kann ihnen alle ihre Spannung wiedergeben, oder auch sie unwiederherstellbar vertilgen. Wenn sie noch einen Schritt weiter geht in der Entmuthigung, so ist sie verloren; aber wenn es dieser herrlichen Seele einen Augenblick gelingt, sich wiederzu erheben, so wird sie größer,
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