Julie oder Die neue Heloise
fürchtete sie nun, ihre Tochter der Wuth eines erzürnten Vaters auszusetzen oder fürchtete sie für sich selbst, ihre Aengstlichkeit hat sie immer davon zurückgehalten, und ihre Schwäche, ihr Leiden nimmt so sichtlich zu, daß ich fürchte, sie wird außer Stande sein, ihren Entschluß auszuführen, noch ehe sie ihn recht gefaßt hat.
Wie dem sei, trotz der Fehltritte, an denen Sie Schuld sind, hat die Redlichkeit der Schmerzen, die sich in eurer beider Liebe kund giebt, ihr eine solche Meinung von Ihnen beigebracht, daß sie sich auf euer beiderseits gegebenes Wort, den Briefwechsel abzubrechen, verläßt, undkeine Anstalt gemacht hat, ihre Tochter sorgsamer zu bewachen. In der That, wenn Julie ihr Vertrauen nicht rechtfertigte, würde sie ihrer Liebe nicht mehr werth sein, und man müßte euch beide erwürgen, wenn ihr fähig wäret, noch einmal die beste der Mütter zu betrügen und die Achtung zu mißbrauchen, die sie euch zollt
Es ist nicht meine Absicht, eine Hoffnung in Ihrem Herzen wieder zu entzünden, die ich selbst nicht hege, ich will Ihnen nur zeigen, wie wahr es ist, daß das Rechtschaffenste auch immer das Klügste ist und daß, wenn Ihrer Liebe noch irgend eine Aussicht bliebe, sie aus der Seite des Opfers liegt, das Ehre und Vernunft von Ihnen heischen. Mutter, Verwandte, Freunde, Alles ist jetzt für Sie, nur der Vater nicht, den man nie gewinnen wird oder allein auf diesem Wege. Was für eine Verwünschung Ihnen auch ein Augenblick der Verzweiflung auspreßt, Sie haben uns tausend Mal bewiesen, daß kein Weg sicherer zum Glücke führt, als der der Tugend. Erreicht man es, so ist es durch sie reiner, dauernder und süßer; verfehlt man es, so kann nur sie entschädigen. Fassen Sie also wieder Muth, seien Sie Mann, seien Sie wieder Sie selbst. Wenn ich Ihr Herz recht erkannt habe, so würde die schlimmste Art, Julien zu verlieren, für Sie die sein, wenn Sie unwerth wären, sie zu erhalten.
Fünfter Brief.
Von Julie.
Sie ist nicht mehr. Meine Augen sahen die ihrigen sich auf ewig schließen; mein Mund fing ihren letzten Hauch auf; mein Name war das letzte Wort, das sie aussprach; ihr letzter Blick war auf mich geheftet. Nein, nicht das Leben war es, von dem sie zu scheiden schien, ich hatte es ihr zu wenig lieb zu machen gewußt, von mir nur allein riß sie sich los, Sie sah mich ohne Führer und ohne Hoffnung, von meinem Unglück und von meiner Schuld erdrückt; sterben war ihr nichts, ihr Herz härmte sich nur, die Tochter in diesem Zustande zurückzulassen. Sie hatte nur zu sehr Recht. Was hatte sie auf Erden zu verlieren? Was hienieden konnte ihr den unsterblichen Lohn ihrer Geduld und ihrer Tugenden aufwiegen, der im Himmel ihrer wartete? Was blieb für sie auf der Welt noch übrig, als über meine Schmach zu weinen? Reine, keusche Seele, würdige Gattin und unvergleichliche Mutter, du lebst jetzt an dem Aufenthalte der Herrlichkeit und Seligkeit: du lebst! und ich, der Reue und Verzweiflung hingegeben, deines Beistandes, deines Rathes, deiner süßen Liebkosungen beraubt, bin todt dem Glücke, dem Frieden, der Unschuld: ich fühle nichts mehr als meine Schande; mein Leben ist nichts mehr als Kummer und Schmerz. Meine Mutter, du zärtliche Mutter, ach, ach! ich bin mehr todt als du!
Mein Gott! Reißt mich Unglückliche das überströmende Gefühl dennoch hin und macht mich meiner Vorsätze vergessen? Wohin ergieße ich meine Thränen und sende ich meine Seufzer? Wieder dem Grausamen, der Schuld an ihnen ist, vertraue ich sie an! Wieder mit ihm, dem ich das Unglück meines Lebens verdanke, will ich es beweinen! Ja, ja, Barbar, theilen Sie die Qualen, die ich Ihretwegen leiden muß. Sie, um dessen willen ich das Messer in den Mutterbusen stieß, jammern Sie über das Wehe, das mir von Ihnen kommt und fühlen Sie mit mir den Graus eines Elternmordes, der Ihr Werk war. Vor welchen Augen könnte ich es wagen, mich ganz so verächtlich, wie ich bin, zu zeigen? Vor wem könnte ich mich so erniedrigen, wie meine Gewissensqualen es fordern? Wer anders als der Mitschuldige meines Verbrechens würde es in seinem ganzen Umfange kennen? Die unerträglichste von meinen Qualen ist, daß nur mein Inneres mich verklagt und daß ich die unlauteren Thränen, die mir die kochende Reue auspreßt, noch meinem guten Herzen muß beimessen sehen. Ich sah, sah schaudernd den Schmerz die letzten Tage meiner armen, armen Mutter vergiften und beschleunigen. Vergeblich wollte sie aus Mitleid mit mir es
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