Julie oder Die neue Heloise
erschöpft. Erinnern Sie sich jenes so leidenschaftlichen Briefes, am Tage nach einer vermessenen Zusammenkunft geschrieben; ich habe ihn mit einer bis dahin mir unbekannten Gemüthsbewegung gelesen: es ist darin nicht der stetige Zustand einer weichen Seele zu erkennen, sondern das letzte Auflodern eines liebentbrannten und freudetrunkenen Herzens; Sie sprechen selbst das Urtheil aus, daß man dergleichen Verzückungen nicht zweimal in seinem Leben erführe und daß man sterben sollte, nachdem man sie erlebt. Mein Freund, dies war der höchste Gipfel, und was auch Schicksal und Liebe für Sie noch gethan hätten, Ihre Glut und Ihr Glück konnten von da an nur noch niedersteigen. Dies war nun auch der Anfang Ihres Mißgeschickes, und Ihre Geliebte wurde Ihnen in dem Augenblicke genommen, als sie Ihnen keine neuen Empfindungen mehr zu kosten geben konnte; gleich als hätte das Geschick Ihr Herz vor der unausbleiblichen Sättigung behüten und Ihnen in der Erinnerung der vergangenen Genüsse einen Genuß lassen wollen, süßer als alle, die Ihnen noch im Leben zu Theil werden könnten.
Trösten Sie sich über den Verlust eines Gutes, das Ihnen immer doch entronnen wäre, und noch überdies Ihnen das geraubt hätte, welches Ihnen bleibt. Glück und Liebe würden mit einander entflogen sein; Sie haben wenigstens das Liebesgefühl behalten; man ist nicht ohne Freuden, wenn man noch liebt. Die Vorstellung einer erloschenen Liebe ist für ein zärtliches Herz schrecklicher als die der unglücklichen Liebe und der Ueberdruß an dem, was man besitzt, ist ein tausendmal schlimmerer Zustand als der Schmerz um das, was man verloren hat.
Wenn die Vorwürfe, welche sich meine Cousine in ihrer tiefen Betrübniß über den Tod ihrer Mutter macht, gegründet wären, so würde freilich dieses grausame Andenken das Andenken euerer Liebe vergiften, ja ein so unseliger Gedanke müßte sie auf ewig auslöschen; aber schenken Sie dem, was ihr Schmerz ihr eingiebt, keinen Glauben; dieser Schmerz täuscht sie, oder vielmehr der eingebildete Grund, mit welchem sie ihn sich vergrößert, ist nur ein Vorwand, um sein Uebermaß zu rechtfertigen. Diese zärtliche Seele fürchtet immer sich nicht genug zu betrüben, und es gewährt ihr eine Art Befriedigung, das Gefühl ihres Kummers durch Alles, was ihn nur schärfen kann, zu steigern, Sie macht sich einen Schein vor, glauben Sie mir, sie ist nicht aufrichtig gegen sich selbst. Ach! wenn sie in allem Ernste glaubte, die Tage ihrer Mutter verkürzt zu haben, könnte dann ihr Herz die furchtbaren Bisse des Gewissens aushalten? Nein, nein, mein Freund! Dann würde sie nicht um sie weinen, sie würde ihr nachgefolgt sein. Woran Frau von Étange gelitten hat, wissen wir ganz gut; es war eine unheilbare Brustwassersucht, und sie war von den Aerzten aufgegeben, schon ehe sie Ihre Briefe entdeckt hatte. Diese Entdeckung war ein Gegenstand großen Kummers für sie, aber wie viel stille Freude machte das Unheil wieder gut, das dieselbe ihr zugefügt haben konnte! Wie tröstlich war es für diese zärtliche Mutter, zu sehen, indem sie über die Fehltritte ihrer Tochter seufzte, durch wie viel Tugenden dieselben ausgeglichen wurden, und indem sie ihre Schwäche beweinte, ihr Gemüth bewundern zu müssen! Wie süß war es ihr, zu fühlen, wie heiß sie von ihr geliebt ward! Dieser unermüdliche Eifer! diese unausgesetzte Sorgfalt! diese stete Beflissenheit! diese Verzweiflung, ihr Kummer gemacht zu haben! diese Reue! diese Thränen! diese rührenden Liebkosungen! dieses unversiegliche Mitgefühl! In den Augen der Tochter las man Alles, was die Mutter litt; sie war es, die sie am Tage bediente. Nachts bei ihr wachte; von ihrer Hand empfing sie allen Beistand. Man hätte meinen sollen eine andere Julie zu sehen; ihre natürliche Weichlichkeit war verschwunden, sie war rüstig und stark, die beschwerlichsten Dienstleistungen wurden ihr nicht sauer, und ihre Seele schien ihr einen neuen Körper gegeben zu haben. Sie that Alles und schien nichts zu thun; sie war überall und rührte sich nicht von der Seite ihrer Mutter; man sah sie fortwährend vor ihrem Bette knieen, den Mund auf ihre Hand gedrückt, seufzend entweder über ihren Fehltritt oder über der Mutter Leiden und diese beiden Empfindungen vermischend zu noch tieferer Betrübniß. Niemanden sah ich in den letzten Tagen das Zimmer meiner Tante betreten, den nicht dieser mehr als Alles ergreifende Anblick zu Thränen gerührt hätte. Man sah, wie diese
Weitere Kostenlose Bücher