Julie oder Die neue Heloise
ich will es glauben; aber sollten nicht zwei so innig verbundene Seelen unter sich in einen unmittelbaren Verkehr treten können, unabhängig von Leib und Sinnen? Kann nicht die eine den Eindruck, den sie grades Weges von der andern empfängt, in das Gehirn übertragen und dann von ihm durch Rückwirkung die Empfindungen wieder erhalten, die sie ihm zugeführt hat?.... Arme Julie, was für Fabeleien! Wie machen uns doch die Leidenschaften leichtgläubig! Und wie schwer reißt sich ein heftig bewegtes Herz von seinem Wahne los, selbst wenn es ihn erkennt!
Vierzehnter Brief.
Antwort.
Ach, allzu unglückliches und zu erregbares Mädchen, bist du denn nur zum Leiden geboren? Es hilft mir nicht, wenn ich dir Schmerzen ersparen will; du scheinst sie unaufhörlich zu suchen und dein Stern ist mächtiger als alle meine Vorsicht. So viel wirklichen Ursachen zum Kummer sollen sich wenigstens nicht noch Hirngespinste beigesellen, und da nun doch meine Zurückhaltung dir mehr schädlich als nützlich ist, so will ich dich von einem Irrthum erlösen, der dich peinigt: vielleicht wird dir auch die traurige Wahrheit weniger schmerzlich sein. Wisse denn, daß dein Traum kein Traum ist, daß es nicht der Schatten deines Freundes war, den du gesehen hast, sondern seine Person, und daß der rührende Auftritt, der dir beständig vor der Seele schwebt, wirklich in deinem Zimmer vorgegangen ist, am dritten Tage nach jenem, wo du am kränksten warst.
Den Abend vorher hatte ich dich ziemlich spät verlassen, und Herr v. Orbe, der mich diese Nacht bei dir ablösen wollte, war im Begriff zu gehen, als wir auf einmal den armen Unglücklichen in einem bejammernswerthen Zustande rasch hereintreten und sich uns zu Füßen stürzen sahen. Er hatte beim Empfange deines letzten Briefes die Post genommen, Tag und Nacht im Wagen, machte er den Weg in drei Tagen und wartete nur auf der letzten Station, um bei der Dunkelheit in die Stadt zu kommen. Ich gestehe dir zu meiner Schande, ich war weniger geschwind, ihm um den Hals zu fallen. als Herr v. Orbe; ohne noch den Zweck seiner Reise zu wissen, sah ich die Folgen vorher. So viele bittere Erinnerungen, deine Gefahr, seine eigene, der verwüstete Zustand, in welchem ich ihn sah, Alles vergiftete eine so angenehme Ueberraschung und ich war zu erschrocken, um ihm sehr freundlich entgegenzukommen. Ich umarmte ihn indessen, mit einem Herzweh, das er theilte, und das sich beiderseits durch stummes Drücken, beredter als Schmerzenslaute und Thränen, zu erkennen gab. Sein erstes Wort war: ,,Was macht sie? Ach! was macht sie? Gebt mir das Leben oder den Tod." Ich sah nun wohl, daß er von deiner Krankheit unterrichtet war, und da ich mir einbildete, er wüßte auch, woran du lagst, so sprach ich davon ohne andere Vorsicht, als daß ich die Gefahr verringerte. Sobald er hörte, daß es die Pocken wären, that er einen Schrei und wurde ohnmächtig. Durch die Anstrengung und das Nachtwachen, im Vereine mit seiner innern Unruhe, befand er sich in einem solchen Zustande von Schwäche, daß wir viel Zeit brauchten, um ihn wieder zu sich zu bringen. Kaum konnte er sprechen; er wurde in's Bett geschafft.
Die Natur siegte und er schlief zwölf Stunden hinter einander, aber so unruhig, daß dieser Schlummer ihn mehr erschöpfen als erquicken mußte. Am Tage neue Verlegenheit; er wollte dich durchaus sehen. Ich hielt ihm die Gefahr entgegen, eine Revolution in deinem Zustande hervorzubringen; er sagte, er wolle warten, bis keine Gefahr mehr wäre, aber schon sein Hiersein war eine furchtbar große. Ich versuchte ihn darauf aufmerksam Zu machen; er fiel mir hart in die Rede. Behalten Sie Ihre unmenschliche Beredsamkeit für sich, sagte er in zornigem Tone, Sie gebrauchen sie zu viel zu meinem Verderben. Hoffen Sie nicht, mich abermals hinwegzujagen, wie damals in meine Verbannung; ich würde hundert Mal vom Ende der Welt herbeikommen, um sie einen einzigen Augenblick zu sehen. Aber ich schwöre bei dem Schöpfer meines Daseins, setzte er heftig hinzu, daß ich nicht von hier weggehen werde, ohne sie gesehen zu haben. Versuchen wir einmal, ob ich Sie erbarmend oder ob Sie mich meineidig machen werden.
Sein Entschluß stand fest, Herr v. Orbe war der Meinung, man müsse ihm seinen Willen zu thun suchen, um ihn dann entfernen zu können, bevor seine Wiederkunft entdeckt würde; denn es kannte ihn Niemand im Hause außer Hans, auf den ich mich verlassen konnte, und wir hatten ihn vor unsern Leuten mit einem andern
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