Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
grausam hintergangen sah, auch Sie konnte sie nicht hassen. Ich war Zeuge von der Wirkung, welche Ihr Brief auf ihr weiches, mitleidiges Herz hervorbrachte. Ach! sie wünschte Ihr und mein Glück. Sie machte mehr als einmal den Versuch .... Wozu eine Hoffnung zurückrufen, die auf immer begraben ist? Der Himmel hatte es anders verhängt. Sie beschloß ihre trübseligen Tage in dem Schmerze, daß sie den Willen eines harten Gatten nicht hatte ändern können und ihre Tochter so wenig ihrer würdig zurücklassen mußte.
    Gebeugt von einem so schmerzlichen Verluste, hatte meine Seele zu nichts Kraft, als ihn zu fühlen; die Stimme der Natur erstickte mit ihrem Jammer die murrende Stimme der Liebe, Ich faßte wie einen Abscheu vor der Ursache so vieler Leiden, ich wollte endlich die verhaßte Leidenschaft ersticken, die sie mir zugezogen hatte, und auf Sie für immer verzichten. Ohne Zweifel war das nöthig; hatte ich doch schon für mein ganzes übriges Leben genug zu weinen, und brauchte nicht noch immerfort neue Ursache zu Thränen zu suchen. Alles schien meinen Entschluß zu begünstigen. Wenn Traurigkeit die Seele erweicht, tiefe Trübsal verhärtet sie. Das Andenken meiner sterbenden Mutter löschte das Ihrige aus; wir waren fern von einander, die Hoffnung hatte mich ganz verlassen. Nie hatte sich meine unvergleichliche Freundin so groß gezeigt, so würdig, mein ganzes Herz allein einzunehmen; ihre Tugend, ihr Verstand, ihre Freundschaft, ihre zärtlichen Liebkosungen schienen es gereinigt zu haben: ich glaubte Sie schon vergessen, glaubte mich geheilt. Es war zu spät; was ich für die Kälte einer erloschenen Liebe hielt, war nur die Abspannung der Verzweiflung.
    Wie ein Kranker, der, wenn er in Schwäche fällt, nicht mehr leidet, dann aber wieder zu lebhafteren Schmerzen sich aufrafft, fühlte ich die meinigen bald alle wiederkehren, als mein Vater mir die nahe bevorstehende Zurückkunft des Herrn von Wolmar ankündigte. Da gab mir die unüberwindliche Liebe von Neuem Kräfte, deren ich mich nicht mehr fähig glaubte. Zum ersten Male in meinem Leben wagte ich, mich meinem Vater in's Angesicht zu widersetzen; ich erklärte ihm rund heraus, daß Herr von Wolmar mir nichts sein könnte, daß ich entschlossen sei, ledig zu sterben; er könne über mein Leben gebieten, aber nicht über mein Herz, und nichts würde mich zu einer Aenderung meines Willensbewegen. Ich will nichts sagen von seinem Zorn, von der Behandlung, die ich zu erleiden hatlte. Ich war unerschütterlich: da meine Aengstlichkeit einmal überwunden war, ging ich zu dem anderen Aeußersten über, und wenn mein Ton weniger gebieterisch war als der meines Vaters, war er doch ebenso fest.
    Er sah, daß mein Entschluß gefaßt war, und daß er mit Gewalt nichts bei mir ausrichten würde. Schon glaubte ich, daß er mich nun nicht weiter plagen würde; aber wie ward mir, als ich auf einmal den strengsten der Väter weichmüthig und in Thränen zerfließend zu meinen Füßen sah? Ohne zuzulassen, daß ich ihn aufhob, preßte er meine Knie, und seine nassen Augen auf die meinigen geheftet, sagte er mit einer rührenden Stimme, die ich noch in meinem Innern höre: Meine Tochter, achte die weißen Haare deines unglücklichen Vaters, laß ihn nicht mit Schmerzen in die Grube fahren, wie Die, welche dich in ihrem Schoße trug. Ach! willst du deiner ganzen Familie den Tod geben?
    Denken Sie sich meine Erschütterung. Diese Stellung, dieser Ton, diese Geberde, diese Rede, dieser furchtbare Gedanke packten mich so, daß ich halb todt in seine Arme glitt, und erst nachdem ich mir mit heftigem Schluchzen Luft gemacht hatte, konnte ich mit gebrochener schwacher Stimme antworten: O mein Vater, ich war gewaffnet gegen Ihre Drohungen, aber nicht gegen Ihre Thränen; Sie, Sie werden Ihre Tochter tödten.
    Wir waren beide in solcher Bewegung, daß wir uns lange nicht fassen konnten. Indessen, seine letzten Worte mir in Gedanken wiederholend, erkannte ich, daß er besser unterrichtet war, als ich geglaubt hatte; ich beschloß, mir sein Wissen zu einer Waffe gegen ihn zu machen, und schickte mich an, ihm, auf Gefahr meines Lebens, ein nur zu lange schon aufgeschobenes Bekenntniß abzulegen, als er mich mit einer Lebhaftigkeit unterbrach, als ob er vorausgesehen und gefürchtet hätte, was ich ihm sagen wollte, und Folgendes sprach:
    „Ich weiß nicht, was für Phantasien, die eines Mädchens von gutem Herkommen unwürdig sind, du in deinem Herzen nährest. Es ist Zeit, der

Weitere Kostenlose Bücher