Julie oder Die neue Heloise
erschöpft, daß es vor der Zeit alt wird, und so viele verschiedene Neigungen haben es so aufgezehrt, daß für neue Bande kein Raum mehr übrig ist. Du hast mich nach und nach als Tochter, als Freundin, als Liebende, als Gattin und als Mutter gesehen. Du weißt, ob mir alle diese Verhältnisse theuer waren! Einige der Bande sind zerrissen, andere gelockert. Meine theure Mutter ist nicht mehr; ich kann nichts mehr thun, als um sie weinen, und nur noch halb schmecke ich das süßeste Gefühl der Natur. Die Liebe ist erloschen, auf ewig, und auch dies ist eine Stelle, die nicht wieder auszufüllen ist. Wir haben deinen guten, zärtlichen Mann verloren, den ich als die theure Hälfte deines Selbst liebte, und der deine Zärtlichkeit und meine Freundschaft so sehr verdiente. Wenn meine Söhne größer wären, so würde die Mutterliebe alle diese Lücken ausfüllen, aber diese Liebe bedarf, wie jede, des Austausches, und welche Erwiderung kann eine Mutter von einem Kinde von vier oder fünf Jahren erwarten? Wir lieben unsere Kinder lange bevor sie es fühlen und uns wieder lieben können, und doch ist das Bedürfniß so groß, Einem, der uns versteht, zu sagen, wie sehr wir sie lieben. Mein Mann versteht mich, aber er antwortet mir nicht, wie ich es mir wünsche; er schwärmt nicht wie ich, seine Liebe zu ihnen ist vernünftiger; ich brauche eine, die lebhafter ist und mehr der meinigen gleicht. Ich muß eine Freundin haben, eine Mutter, die ebenso verliebt als ich in meine und ihre Kinder ist. Mit einem Worte, daß ich Mutter bin, macht mir die Freundschaft noch unentbehrlicher, um. ohne Furcht zu langweilen, unaufhörlich von meinen Kindern sprechenzu können. Ich fühle, daß mir die Liebkosungen meines kleinen Marcellin doppeltes Vergnügen machen, wenn ich sehe, daß du Theil daran nimmst. Wenn ich deine Tochter umarme, so glaube ich, dich an mein Herz zu drücken. Wir haben es ja hundert Mal gesagt, wenn wir unsere kleinen Püppchen um uns spielen sehen, so machen unsere verbundenen Herzen keinen Unterschied, und wir wissen nicht mehr, welcher von uns jedes von den dreien gehört.
Aber es ist noch nicht Alles: Ich habt sehr triftige Gründe, dich unaufhörlich bei mir zu wünschen, und deine Abwesenheit ist in mehr als einer Hinsicht hart für mich. Bedenke nur, wie sehr ich jeder Verstellung feind bin, und daß ich nun seit fast sechs Jahren in einer beständigen Zurückhaltung dem Manne gegenüber leben muß, der mir von allen Menschen der theuerste ist. Dies verhaßte Geheimhalten drückt mich je länger, desto mehr, und scheint mir doch mit jedem Tage unerläßlicher. Je mehr die Ehrlichkeit fordert, daß ich mich ihm offenbare, desto mehr verhindert mich die Klugheit, es zu thun. Begreifst du, welch ein schrecklicher Zustand es für eine Frau ist, wenn sich Mißtrauen, Lüge und Furcht bis in die Umarmungen ihres Gatten drängen, wenn sie nicht wagt, ihr Herz Dem zu öffnen, der es besitzt, und vor ihm die Hälfte ihres Lebens verbirgt, um die Ruhe der andern Hälfte sicher zu stellen? Und vor wem, o mein Gott, muß ich meine geheimsten Gedanken verstecken, und das Innere einer Seele verschließen, mit der er so viel Ursache hatte zufrieden zu sein? Vor Herrn von Wolmar, vor meinem Manne, dem würdigsten Gatten, mit dem nur der Himmel die Tugend eines züchtigen Mädchens hätte belohnen können. Weil ich ihn einmal betrogen habe, muß ich ihn alle Tage betrügen, und mich ohne Unterlaß der Güte unwerth fühlen, mit der er mir begegnet. Kein Zeichen seiner Achtung wagt mein Herz sich anzueignen; seine zärtlichsten Liebkosungen machen mich schamroth, und alle Beweise von Achtung und Vertrauen, die er mir giebt, verwandelt mein Genüssen in Vorwürfe und Aeußerungen der Geringschätzung. Es ist recht hart, wenn man sich unablässig sagen muß: Die, welche er ehrt, ist eine Andere als ich; ach, wenn er mich kennte, würde er mir nicht so begegnen. Nein, ich kann diesen schrecklichen Zustand nicht ertragen; ich bin nie allein mit diesem achtungswürdigen Manne, ohne daß es mich drängt, mich vor ihm auf die Knie zu werfen, ihm meinen Fehltritt zu bekennen, und zu seinen Füßen vor Schmerz und Scham zu sterben.
Jedoch die Gründe, welche mich von Anfang an zurückgehalten haben, gewinnen jeden Tag an Kraft, und Alles, was mich bestimmen sollte zu reden, ist ebenso sehr ein Grund zu schweigen. Wenn ich die friedliche Stille unseres Familienlebens ansehe, denke ich nur mit Entsetzen daran, daß ein einziges
Weitere Kostenlose Bücher