Julie oder Die neue Heloise
offenem Aussprechen aufzufordern schienen. Früher oder später werde ich ihm mein Herz öffnen müssen, das fühle ich; aber da du willst, daß wir uns zuvor darüber besprechen, und daß es mit aller Vorsicht geschehe, zu welcher die Klugheit räth, so komm nur, und bleibe nicht wieder so lange weg, oder ich stehe für nichts.
Meine süße Freundin, ich muß zu dem Letzten übergehen, und was ich noch zu sagen habe, ist wichtig genug, um mir am schwersten zu fallen. Du bist mir nicht nur nothwendig, wenn ich mit meinen Kindern oder mit meinem Manne allein bin, sondern vorzüglich, wenn ich allein bin mit deiner armen Julie. Die Einsamkeit ist mir gerade deshalb gefährlich, weil sie mir süß ist, und ich sie oft unwillkürlich suche. Nicht, daß mein Herz noch seine alten Wunden fühlte, nein. Du weißt, es ist geheilt, ich fühle es, ich weiß es ganz gewiß: ich wage es, mich für tugendhaft zu halten. Nicht die Gegenwart ist, was ich fürchte; was mich quält, ist die Vergangenheit. Es giebt Erinnerungen, die so furchtbar sind, wie Etwas das man wirklich fühlt; man wird wehmüthig in der Rückerinnerung, man schämt sich, Thränen in den Augen zu fühlen, und man weint nur desto mehr. Diese Thränen, es sind Thränen des Mitleids, der Klage, der Reue; die Liebe hat keinen Theil daran, sie ist für mich nichts mehr; aber ich weine über das Wehe, das sie gestiftet, ich weine über das Schicksal eines achtungswerthen Mannes, dem eine unvorsichtig genährte Flamme die Ruhe, vielleicht das Leben geraubt hat. Ach! gewiß ist er umgekommen auf dieser langen gefahrvollen Reise, die er aus Verzweiflung unternahm. Wenn er noch am Leben wäre, vom Ende der Welt würde er uns Nachricht von sich gegeben haben; es sind fast vier Jahre seit seiner Abreise verflossen. Das Geschwader, mit welchem erging, hat, wie man hört, tausend Unfälle erlitten, drei Viertel seiner Mannschaft eingebüßt; mehrere Schiffe sollen gänzlich untergegangen sein, und von den übrigen weiß man jetzt auch nichts mehr. Er ist todt, er ist todt; eine geheime Ahnung sagt es mir. Der Unglückliche wird eben so wenig als so viele Andere dem Schicksale entronnen sein. Das Meer, Krankheiten, die noch grausamere Trübsal wird seine Tage abgekürzt haben. So geht hienieden Alles hin, was einen Augenblick lang glänzt. Das fehlte noch zu meinen Gewissensqualen, daß ich mir den Tod eines rechtschaffenen Mannes vorzuwerfen hätte. Ach, meine Liebe, was für eine Seele war dies! .... Wie konnte er lieben! .... Er war es werth zu lieben .... Er wird vor den höchsten Richter eine Seele gestellt haben, schwach, aber gesund und voll Liebe zur Tugend .... Vergeblich mühe ich mich ab, diese traurigen Gedanken zu verbannen, jeden Augenblick kommen sie mir unwillkürlich wieder ein. Um sie zu verscheuchen, oder wenigstens in Ordnung zu halten, bedarf deine Freundin deiner, und da ich den Unglücklichen nicht vergessen kann, so will ich lieber von dir mit ihm reden, als allein an ihn denken.
Sieh nur, wie viele Gründe das Bedürfniß steigern, das ich beständig empfinde, dich bei mir zu haben! Wenn für dich, die du vernünftiger und glücklicher bist, diese Gründe auch nicht vorhanden sind, fühlt deshalb dein Herz weniger dasselbe Bedürfniß? Wenn es wahr ist, daß du dich nicht wieder verheiraten willst, sage doch, da du in deiner Familie so wenig Befriedigung findest, welches Haus kann dir mehr zusagen, als dieses hier? Mich, sieh, mich schmerzt es, dich in dem deinigen zu wissen; denn, wie du dich auch verstellen magst, ich weiß recht gut, wie du dort lebst, und lasse mich nicht durch die angenommene Lustigkeit täuschen, welche du uns in Clarens zum Besten gabst. Du hast mir in meinem Leben manchen Fehler vorgeworfen; aber ich habe dir deinerseits einen recht großen vorzuwerfen, nämlich, daß du dich mit deinem Schmerze immer verschließest und zurückziehst. Du versteckst dich, wenn du traurig bist, als ob du dich schämtest, vor deiner Freundin zu weinen. Clara, das liebe ich nicht. Ich bin nicht ungerecht wie du; ich tadle deinen Schmerz nicht; ich will nicht, daß du nach zwei oder zehn Jahren, ja, in deinem ganzen Leben aufhörst, das Andenken eines so zärtlichen Gatten zu ehren; aber ich tadle dich, die du deine schönsten Tage damit hingebracht hast, mit deiner Julie zu weinen, daß du es ihr nicht gönnst, nun auch mit dir zu weinen, und mit ehrenwertheren Thränen die Schmach jener, die sie an deinem Busen vergoß, auszulöschen. Wenn es
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