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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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gelitten, noch größere Leiden mit angesehen. Wie viel Unglückliche sah ich sterben! Ach, sie legten so großen Werth auf das Leben. Und ich, ich habe sie überleben müssen .... Vielleicht war ich in Wahrheit weniger zu beklagen; das Elend meiner Gefährten that mir weher, als mein eigenes; ich sah sie ganz von ihren Leiden hingenommen; sie müssen mehr ausgestanden haben als ich. Ich sagte mir: ich befinde mich hier schlecht, aber es giebt einen Winkel auf der Erde, wo ich glücklich bin und Frieden habe, und ich entschädigte mich am Ufer des Genfersees für Das, was ich auf dem Ocean erduldete. Ich habe das Glück, bei meiner Ankunft hier meine Hoffnung bestätigt zu sehen; Milord Eduard sagt mir, daß Sie beide ruhig leben und gesund sind, daß Ihnen, Clara, insbesondere, wenn Ihnen der süße Name Gattin geraubt ist, die anderen Freundin und Mutter geblieben sind, die wohl zu Ihrem Glücke genügen.
    Der Abgang dieses Briefes drängt mich zu sehr, um Ihnen Einzelnes über meine Reise mitzutheilen; ich bin so kühn zu hoffen, daß ich bald eine bequemere Gelegenheit dazu finden werde. Ich will mich hier begnügen, Ihnen eine ungefähre Vorstellung davon zu geben, mehr um Ihre Neugierde zu erregen, als zu befriedigen. Ich habe fast vier Jahre auf der Ungeheuern Fahrt zugebracht, von der ich Ihnen eben sagte, und bin auf demselben Schiffe zurückgekommen, auf welchem ich abgereist war, dem einzigen, welches der Commandant von seinem Geschwader wieder heimgebracht hat.
    Ich sah zuerst Südamerika, diesen gewaltigen Continent, den der Mangel an Eisen den Europäern unterworfen hat, und aus dem sie, um sich die Herrschaft darüber zu sichern, eine Wüste gemacht haben. Ich sah die Küsten Brasiliens, wo Lissabon und London ihre Schätze holen, und wo das erbarmenswürdigste Volk auf Gold und Diamanten tritt, ohne daß es etwas davon anzurühren wagte. Ich passirte glücklich die sturmvollen Meere des südlichen Polarkreises; im stillen Ocean wurde ich von den fürchterlichsten Unwettern ereilt.
E in mar dubbioso sotto ignoto polo
    Provai l'onde gfallaci e'l vento infido.

    [Auf ungewissem Meer, am fremden Pol
    Trüg'rischer Well' und tückischen Windes Spiel.]
    Ich sah von fern den Aufenthalt jener vorgeblichen Riesen
[Der Patagonier.]
, deren Größe in der That nur in ihrem Muthe besteht, und deren Unabhängigkeit mehr durch ein einfaches, mäßiges Leben, als durch eine außerordentliche Leibesgestalt gesichert ist. Ich weilte drei Monate auf einer wüsten, köstlichen Insel, die mir ein süßes, rührendes Bild gab von der altertümlichen Schönheit der Natur, und die an das Ende der Welt verwiesen zu sein scheint, um der verfolgten Unschuld und Liebe zum Asyl zu dienen; aber der habgierige Europäer, seinem wilden, menschenfeindlichen Sinne folgend, erlaubt dem friedlichen Indianer nicht, sie zu bewohnen, und läßt sich Gerechtigkeit widerfahren, indem er sie selbst nicht bewohnt.
    Ich sah an den Küsten von Mexiko und Peru dasselbe Schauspiel wie in Brasilien: ich sah die selten gewordenen unglücklichen Eingeborenen, traurige Ueberbleibsel von zwei mächtigen Völkern, beladen mit Ketten, Schmach und Elend, mitten unter ihren reichen Metallschätzen den Himmel weinend anklagen, daß er sie ihnen geschenkt hat. Ich sah eine ganze Stadt widerstandslos und ohne Vertheidiger schändlich niederbrennen. Das ist so Kriegsrecht unter den gebildeten, humanen und policirten Völkern Europas; man beschränkt sich nicht darauf, seinen Feinden allen Schaden zuzufügen, von welchem man selbst Profit ziehen kann, sondern man rechnet sich jeden Schaden zum Profite, den man ihnen um nichts und wieder nichts zufügt. Ich fuhr fast die ganze Westseite von Amerika entlang, nicht ohne mich von Bewunderung ergriffen zu fühlen, indem ich fünfzehnhundert Lieues Küste und das größte Meer der Welt unter der Herrschaft einer einzigen Macht sah, die, so zu sagen, die Schlüssel einer Hälfte des Erdballs in ihrer Hand hält.
    Nachdem ich das große Meer passirt hatte, fand ich auf dem andern Continente ein neues Schauspiel. Ich sah die zahlreichste und merkwürdigste Nation der Welt einer Hand voll Räuber unterworfen; ich sah dieses berühmte Volk in der Nähe, und wundere mich nicht mehr über seine Sklaverei. Eben so oft erobert, als angegriffen, war es stets die Beute des ersten Besten, und wird das bis an's Ende der Zeiten sein. Ich fand, daß es sein Loos verdient, da es nicht einmal den Muth hat, darüber zu seufzen.

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