Julie oder Die neue Heloise
behalten, und ehe der Sommer verstreicht, hoffe ich zu dir ziehen zu können, um dann auf Lebenszeit bei dir zu bleiben.
Ich habe mich noch über den Vorwurf zu erklären, daß ich mein Leid vor dir verberge, und daß ich es liebe, entfernt von dir zu weinen; ich läugne es nicht, damit geht die beste Zeit bin, die ich hier zubringe. Ich betrete nie mein Haus, ohne dort Erinnerungen an Den zu finden, der es mir lieb gemacht hat. Ich kann darin keinen Schritt thun, keinen Gegenstand in's Auge fassen, ohne irgend ein Zeichen seiner Zärtlichkeit und Herzensgüte zu bemerken; möchtest du, daß mein Herz nicht davon gerührt wäre? Wenn ich hier bin, fühle ich nur den Verlust, den ich erlitten habe; wenn ich bei dir bin, sehe ich nur, was mir geblieben ist. Kannst du es mir zum Verbrechen machen, daß du so viel Macht über meine Stimmung hast? Wenn ich weine, wo du nicht bist, und bei dir lache, woher denn dieser Unterschied? Undankbare Seele! Daher, daß ich bei dir Trost für Alles finde, und daß ich über nichts mehr traurig sein kann, wenn ich dich habe.
Du hast viel zum Lobe unserer alten Freundschaft gesagt; aber ich kann dir nicht verzeihen, daß du das vergessen hast, was mir die meiste Ehre macht, nämlich, daß ich dich liebe, obgleich du mich in Schatten stellst. Meine Julie, du bist geboren zu herrschen. Deine Herrschaft ist die absoluteste, die ich kenne: sie erstreckt sich selbst auf den Willen, und ich fühle sie mehr als irgend Jemand. Wie geht nur das zu, Cousine? Wir lieben beide die Tugend, die Redlichkeit ist uns gleich theuer, unsere Bildung ist die nämliche, ich stehe dir an gewecktem Geist kaum nach, und bin nicht weniger hübsch als du. Ich weiß das Alles recht gut, und trotz dem Allen imponirst du mir, unterjochst mich, drückst mich zu Boden, und ich bin rein Nichts vor dir. Selbst da, als du in einem Verhältnisse lebtest, das du dir zum Vorwurf machtest, und ich, die ich deinen Fehltritt nicht nachgethan, nun wohl das Uebergewicht hätte gewinnen sollen, blieb es nichtsdestoweniger dir. Deine Schwachheit, die ich tadelte, dünkte mir fast eine Tugend; ich konnte nicht umhin an dir zu bewundern, was ich an einer andern gescholten hätte. Genug, selbst in jener Zeit nahte ich dir nicht ohne ein gewisses Gefühl von unwillkürlicher Achtung, und es ist gewiß, daß ganz so viel Sanftmuth, als du besitzest, ganz diese Zutraulichkeit, die du in deinen Umgang legst, nöthig war, um mich zu deiner Freundin zu machen: von Natur hätte ich deine Magd sein müssen. Erkläre, wenn du kannst, dieses Räthsel; ich für mein Theil verstehe es nicht.
Aber halt! ein Bißchen verstehe ich's doch und ich glaube es schon früher einmal erklärt zu haben; es kommt daher, daß dein Herz Alles, was dich umgiebt, beseelt, und ihm, so zu sagen, ein neues Dasein schafft, wofür dir notwendig Jeder in Dankbarkeit huldigen muß, da er es ohne dich nicht gehabt haben würde. Ich habe dir wichtige Dienste geleistet, ich räume das ein; du erinnerst mich so oft daran, daß ich nicht Gelegenheit habe, es zu vergessen. Ich läugne nicht, daß du ohne mich verloren warst. Aber was habe ich gethan, als daß ich dir wiedererstattete, was ich von dir empfangen hatte? Ist es möglich, lange mit dir umzugehen, ohne die Seele durchdrungen zu fühlen von Allem, was die Tugend Reizendes und die Freundschaft Süßes hat? Weißt du nicht, daß Alles, was dir naht, von dir selbst die Waffen empfängt zu deiner Vertheitigung, und daß ich vor den Anderen nichts voraus habe, als den Vortheil, welchen die Wachen des Sesostris hatten, daß ich mit dir von einerlei Alter und Geschlecht, und mit dir aufgezogen bin? Wie dem nun sei, darüber, daß sie weniger werth ist als Julie, tröstet sich Clara damit, daß sie ohne Julie noch viel weniger werth sein würde; und dann, dir die Wahrheit zu sagen, glaube ich, daß wir Beide einander sehr nöthig haben, und daß jede von uns Beiden viel dabei verlieren würde, wenn uns das Schicksal getrennt hätte.
Daß mich die Geschäfte hier noch festhalten, ist mir am meisten der Gefahr wegen leid, daß dein Geheimniß dir immer aus dem Munde entschlüpfen will. Ich beschwöre dich, bedenke, daß das, was dich treibt, es zu bewahren, ein triftiger und gewichtiger Grund ist, und das, was dich treibt, es zu offenbaren, nur ein blindes Gefühl. Selbst unser Verdacht, daß unser Geheimniß für Den, den es angeht, keines mehr sei, ist ein Grund mehr, ihn nur mit der größten Vorsicht darüber
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