Julie oder Die neue Heloise
fehlen wird, solange das Haus in guten Umständen bleibt. Sie sorgen also, indem sie dem Hause dienen, für ihr Erbe und vermehren dieses, indem sie sich ihren Dienst angenehm machen; es ist dies ihr eigenes größtes Interesse. Das Wort Interesse ist aber hier nicht an seiner Stelle, denn ich habe nie eine innere Einrichtung gesehen, bei welcher das Interesse so klüglich wahrgenommen und doch von so geringem Einfluß gewesen wäre, als hier. Alles geschieht aus Anhänglichkeit; man möchte sagen, daß diese käuflichen Seelen sich reinigen, indem sie in diese Wohnstätte der Weisheit und der Einigkeit eintreten. Man möchte sagen, daß ein Theil von dem klaren Verstande des Herrn und von dem gefühlvollen Wesen der Herrin in Jeden ihrer Leute übergegangen ist, so einsichtig, wohlthätig, rechtschaffen und ihrem Stande überlegen findet man sie. Ihr größter Ehrgeiz ist, sich Achtung, Liebe, Wohlwollen zu erwerben, und sie zählen die verbindlichen Worte, die ihnen gesagt werden, wie Andere die Geschenke, welche sie empfangen.
Dies, Milord, sind meine vornehmsten Beobachtungen über denjenigen Theil der Verwaltung dieses Hauses, welcher sich auf die Dienerschaft und die Lohnarbeiter bezieht. Was die Lebensweise der Herrschaft und die Behandlung der Kinder betrifft, so verdient jeder dieser Gegenstände einen besonderen Brief. Sie wissen, in welcher Absicht ich diese Mittheilungen begonnen habe; aber Alles zusammen giebt in der That ein so entzückendes Gemälde, daß man kein anderes Interesse nöthig hat, um es gern zu betrachten, als die Freude, welche man daran findet.
Elfter Brief.
Saint-Preux an Milord Eduard.
Ja, Milord. es ist Wort für Wort wahr, man sieht nichts in diesem Hause, worin nicht das Angenehme mit dem Nützlichen gepaart wäre; die nützlichen Beschäftigungen beschränken sich aber nicht auf die einträglichen Arbeiten allein, sie umfassen auch alle die unschuldigen und einfachen Vergnügungen, welche die Liebe zur Zurückgezogenheit, zur Arbeit, zur Mäßigkeit nähren, die Seele gesund erhalten und das Herz frei von dem Wirrwarr der Leidenschaften. Während träge Unthätigkeit nur Mißmuth und Langeweile gebiert, ist der Reiz einer süßen Muße die Frucht eines arbeitsamen Lebens. Man arbeitet nur, um zu genießen; diese Abwechselung von Mühe und Genuß ist unser wahrer Beruf. Die Ruhe, welche zur Erholung von gethaner Arbeit und zur Stärkung für neue Arbeit dient, ist dem Menschen nicht weniger nothwendig, als die Arbeit selbst.
Nachdem ich von der Wachsamkeit und Thätigkeit der achtungswürdigsten Familienmutter die Wirkungen in der Ordnung ihres Hauses gesehen hatte, sah ich gleiche Wirkung von ihren Erholungen an einem einsamen Orte, den sie zu ihrem Lieblingsspaziergange gemacht hat und den sie ihr „Elysium" nennt.
Ich hatte schon mehrere Tage von diesem Elysium reden hören und zwar in einer gewissen geheimnißvollen Weise. Endlich gestern Nachmittag, da es der außerordentlichen Hitze wegen außerhalb des Hauses und innen gleich unerträglich war, machte Herr v. Wolmar seiner Frau den Vorschlag, sich diesen Nachmittag einmal Urlaub zu nehmen, und anstatt wie gewöhnlich bis zum Abende in der Kinderstube zu bleiben, mit uns in den Baumgarten zu gehen und der Kühle zu genießen; sie willigte ein, und wir gingen miteinander hin.
Dieser Ort, obgleich ganz dicht beim Hause, ist doch durch den bedeckten Gang, welcher zu ihm führt, so versteckt, daß man ihn von keiner Seite sieht. Das dichte Laub, welches ihn umgiebt, verstattet dem Auge keinen Durchgang, und er wird immer sorgfältig verschlossen gehalten. Kaum war ich darin, so sah ich nicht mehr, wo ich hereingekommen war, denn die Thür ist mit Elsen- und Haselstauden maskirt, welche nur zwei schmale Durchgänge auf beiden Seiten offen lassen, und ich war wie aus den Wolken gefallen, da ich keine Thür bemerkte.
Beim Eintritt in diesen sogenannten Baumgarten ergriff mich ein angenehmes Gefühl von Frische, welches tiefer Schatten, lebhaftes Grün, Blumen auf allen Seiten, Gemurmel von fließendem Wasser und das Gezwitscher von tausend Vögeln meiner Einbildungskraft ebenso sehr, als meinen Sinnen zuführten; aber zugleich glaubte ich den wildesten, einsamsten Ort der Natur zu sehen, und es däuchte mir, alsob ich der erste Sterbliche wäre, der je in diese Einöde gedrungen. Ueberrascht, ergriffen, entzückt von einem so unerwarteten Schauspiel, stand ich einen Augenblick unbeweglich, und rief dann in
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