Julie oder Die neue Heloise
jeden Augenblick einen neuen Reiz empfinden. Sie wollen mich vorbereiten, sagte ich zu ihr. Ich höre ein lustiges verworrenes Gezwitscher, und sehe doch ziemlich wenig Vögel; ich merke, daß Sie eine Voliere haben. In der That! sagte sie; gehen wir näher! Ich wollte meine Meinung über Volieren noch nicht sagen, aber der Gedanke daran hatte etwas Unbehagliches für mich, und schien mir auch zu allem Uebrigen nicht zustimmen.
Wir stiegen auf vielfach geschlungenen Wegen in den tiefsten Theil des Baumgartens hinab, wo ich das ganze Wasser, in einen hübschen Bach vereinigt, sanft zwischen zwei Reihen alter verkröpfter Weiden fließen sah. Ihre gehöhlten und halb kahlen Häupter bildeten eine Art Vasen, aus denen, durch Anwendung des zuvor angeführten Kunstgriffes, Massen von Geisblatt hervorquollen, wovon ein Theil sich um die Aeste der Bäume schlang, und der andere anmuthig an dem Bache niederfiel. Fast am Ende des Einschlusses befand sich ein kleines, mit Gräsern, Rohr und Binsen eingefaßtes Bassin, welches die Tränke der Voliere abgab, und die letzte Station dieses so kostbaren und so wohlgehegten Wassers war.
Jenseits des Bassins befand sich ein Erdwall, der sich in der äußersten Ecke des Einschlusses zu einem Hügel erhob, worauf eine Menge Bäumchen aller Art standen, die kleinsten zu oberst und die größeren immer tiefer, so daß die Wipfel eine fast wagerechte Fläche bildeten, oder wenigstens für die Folge andeuteten. Ganz vorn standen ein Dutzend noch junge Bäume, aber von solchen Arten, die sehr groß werden, wie Buche, Ulme, Esche, Acazie. Das Buschwerk dieses Hügels diente der Menge von Vögeln zur Zuflucht, deren Gesang ich von fern gehört hatte, und im Schatten dieses Laubwerks, wie unter einem großen Sonnenschirme, sah man sie flattern, hüpfen, singen, sich schnäbeln, sich beißen, als ob sie uns nicht bemerkt hätten. Sie flohen bei unserer Annäherung so wenig, daß ich, meinem vorgefaßten Gedanken nach, zuerst glaubte, sie wären durch ein Gitterwerk zusammengehalten; als wir aber den Rand des Bassins erreicht hatten, sah ich mehrere von ihnen herabkommen, und sich uns in einer Art kleiner Allee nähern, welche den Erdwall in der Mitte theilte, und die Voliere mit dem Bassin verband. Herr von Wolmar ging um das Bassin herum, streute in die Allee ein paar Händevoll gemischter Sämereien, die er bei sich in der Tasche trug, und als er sich zurückgezogen hatte, eilten die Vögel herbei, und fingen an zu picken, wie Hühner, mit einer solchen Dreistigkeit, daß ich wohl sah, wie gewöhnt sie an diese Fütterung waren. Das ist allerliebst, rief ich aus. Das Wort Voliere hatte mich von Ihnen Wunder genommen, aber jetzt verstehe ich es; ich sehe, daß Sie Gäste haben wollen, nicht Gefangene. Was nennen Sie Gäste? antwortete Julie; wir sind die ihrigen; sie sind hier die Herren, und wir zahlen ihnen Tribut dafür, daß sie uns manchmal dulden. Sehr gut, antwortete ich; aber wie sind diese Herren in Besitz dieses Ortes gelangt? Wie hat man es angefangen, so viele freiwillige Bewohner zusammenzubringen? Ich habe noch nie von einem Versuche dieser Art gehört, und würde nicht geglaubt haben, daß er gelingen könnte, wenn ich nicht den Beweis vor Augen hätte. Geduld und Zeit, sagte Herr von Wolmar, haben dieses Wunder zu stande gebracht. Diese sind Mittel, auf welche die Reichen bei ihren Vergnügungen nicht fallen. In ihrem Jagen nach Genüssen kennen sie keine anderen Mittel als Gewalt und Geld; sie haben Vögel in Käfigen, und Freunde für so und so viel monatlich. Wenn die Bedienten je an diesen Ort kämen, so würden Sie bald die Vögel verschwinden sehen, und wenn sie jetzt in großer Anzahl vorhanden sind, so kommt das daher, weil immer welche dagewesen. Man zieht sie an keinen Ort, wo es keine gegeben hat; aber wo welche sind, ist es leicht mehrere herbeizulocken, wenn man allen ihren Bedürfnissen zuvorkommt, sie niemals scheu macht, sie ihre Nester in Sicherheit bauen läßt, und die Jungen nicht ausnimmt, denn alsdann bleiben diejenigen, welche da sind, und diejenigen, welche hinzukommen, bleiben ebenfalls. Dieses Gebüsch war schon vorhanden, wiewohl von dem Baumgarten getrennt; Julie hat nichts gethan, als daß sie es mit einer lebendigen Hecke umschloß, diejenige wegnahm, welche es von dem Garten trennte, es vergrößerte und mit neuen Pflanzen zierte. Sie bemerken auf beiden Seiten der Allee, die herführt, zwei mit einem bunten Gemisch von Halmen und allerlei
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