Julie oder Die neue Heloise
weniger aufrichtig, weniger bescheiden, weniger wohlthätig sein? Mit Einem Worte, wirst du weniger aller unserer Huldigungen würdig sein? Werden Ehre, Menschlichkeit, Freundschaft, reine Liebe deinem Herzen weniger theuer sein? Wirst du selbst die Tugenden, die du preisgegeben hast, deshalb weniger lieben? Nein, liebe, gute Julie! Deine Clara, die dich beklagt, betet dich an; sie weiß, sie fühlt, daß es nichts Gutes giebt, was nicht noch aus deiner Seele kommen könnte. O, glaube mir, du könntest noch viel verlieren, ehe eine Andere, die sittsamer war, an dich reicht.
Und kurz, ich habe dich noch; ich kann mich über Alles trösten, nur nicht, wenn ich dich verlöre. Dein erster Brief hat mich zittern gemacht: er hätte mich fast dahin bringen können, den zweiten zu wünschen, wenn ich diesen nicht zu gleicher Zeit erhalten hätte. Die Freundin verlassen wollen! An eine Flucht ohne mich denken! Von deinem größten Vergehen sagst du nichts. Und über dieses hättest du hundertmal mehr zu erröthen. Aber die Abscheuliche denkt nur an ihre Liebe …. Wart', ich würde dir bis ans Ende der Welt nachgegangen sein, um dich zu ermorden.
Ich zähle mit tödtlicher Ungeduld die Augenblicke, welche ich noch entfernt von dir hinbringen muß. Sie ziehen sich grausam in die Länge. Wir bleiben noch sechs Tage in Lausanne; dann aber werde ich zu meiner einzigen Freundin fliegen. Ich werde sie trösten oder mit ihr klagen, ihre Thränen trocknen oder theilen. Ich werde bei deinem Schmerze weniger die unerbittliche Vernunft als die weichherzige Freundschaft sprechen lassen. Liebe Cousine, wir müssen seufzen, uns lieb haben, schweigen, und, wenn es möglich ist, mit Tugenden einen Fehltritt auslöschen, den man mit Thränen nicht wieder gut macht. Ach, meine arme Chaillot.
Einunddreißigster Brief.
An Julie.
Was für ein Wunder von Himmel bist du doch, unbegreifliche Julie! Und wie stellst du es an, was kein Anderer vermag, in einem und dem selben Herzen so viele unverträgliche Regungen zu vereinigen? Trunken von Liebe und Lust, schwimmt das meinige in Traurigkeit; ich bin krank und vergehe vor Schmerz im Schoße des höchsten Glückes und werfe mir wie ein Verbrechen das Uebermaß meines Glückes vor. Gott, welche grauenhafte Qual, sich seinen Gefühlen ganz hingeben zu können, immer und ewig das eine mit dem andern bekämpfen zu müssen uns unaufhörlich die Bitterkeit mit dem Genusse zu paaren! Hundert mal besser wäre es ja, völlig elend zu sein.
Ach was hilft es mir, daß ich glücklich bin? Nicht mehr meine Leiden sind es, die ich jetzt fühle, sondern die deinigen, und sie schmerzen mich desto mehr. Vergeblich willst du mir deine Pein verbergen; ich lese sie wider deinen Willen in der Mattigkeit und Erloschenheit deiner Augen. Diese herzigen Augen, können sie irgend ein Geheimniß vor dem Blicke der Liebe verbergen? Ich sehe, ich sehe unter der Maske der Heiterkeit das geheime Mißbehagen, welches dich drückt, und die Traurigkeit, welche du mit einem sanften Lächeln bedeckst, ist meinem Herzen nur um so bitterer.
Es ist nicht mehr Zeit, mir irgend etwas zu verhelen. Ich war gestern in dem Zimmer deiner Mutter; sie verläßt micht einen Augenblick; ich höre ein Aechzen, das mir die Seele durchbohrt — konnte ich an dieser Wirkung seine Quelle verkennen? Ich näherte mich dem Orte, von wo es auszugehen scheint; ich dringe bis an dein Kabinet. Wie ward mir, da ich die Thür ein wenig öffne und sie, die auf dem Throne der Welt zu sitzen verdiente, auf der Erde sehe, den Kopf auf einen Stuhl gelegt, den sie mit ihren Thränen überschwemmt? Ach, es hätte mich weniger geschmerzt, wenn es mit meinem Blute geschehen wäre. Von welchen Gewissensbissen fühlte ich mich im Augenblick zerrissen! Mein Glück wurde mir zur Marter; ich fühlte nichts mehr als deine Schmerzen und ich hätte mit meinem Leben deine Thränen und alle meine Freuden abkaufen mögen. Ich wollte mich dir zu Füßen stürzen, ich wollte mit meinen Lippen diese kostbaren Thränen aufsaugen, sie in den Grund meines Herzens sammeln, sterben oder sie auf immer trocknen; da höre ich deine Mutter wiederkommen, ich muß hastig an meine Stelle zurückkehren: ich nehme alle deine Schmerzen mit hinweg und ein Jammer, der nur mit ihnen enden wird.
Wie demüthigt mich, wie erniedrigt mich deine Reue! Ich bin also ein recht verächtlicher Mensch, daß unsere Vereinigung dich dir selbst verächtlich macht, und daß die Wonne meines Lebens die Marter
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