Julie oder Die neue Heloise
ich bin in Verzweiflung.
Siebenundzwanzigster Brief.
Von Clara.
Mein Schmerz läßt mir kaum Kraft genug, Ihnen zu schreiben. Ihr Unglück und das meinige ist auf dem Gipfel. Die liebenswürdigs Julie ist in den letzten Zügen und hat vielleicht nur noch zwei Tage zu leben. Die Anstrengung, welche es sie kostete, Sie von sich zu entfernen, machte zuerst ihre Gesundheit wankend; die Unterredung mit ihrem Vater in Betreff Ihrer fügte neue Erschütterungen hinzu: anderer späterer Kummer hat ihre Aufregung gesteigert und Ihr letzter Brief hat das Uebrige gethan. Er hat sie so ergriffen, daß sie nach einer in fürchterlichem Kampfe hingebrachten Nacht gestern in ein hitziges Fieber verfiel, welches beständig im Wachsen blieb und sie endlich zum Phantasiren gebracht hat. In diesem Zustande nennt sie Sie jeden Augenblick und spricht von Ihnen mit einer Heftigkeit, welche zeigt, wie sehr sie mit Ihnen beschäftigt ist. Man hält ihren Vater so viel möglich fern; dieses beweist hinlänglich, daß meine Tante Verdacht geschöpft hat: sie hat mich sogar mit Unruhe gefragt, ob Sie noch nicht zurück wären, und ich sehe, daß da die Gefahr ihrer Tochter für den Augenblick jedes andere Bedenken ausschließt, sie Sie nicht ungern hier sehen würde.
Kommen Sie also ohne Verzug. Ich habe dieses Boot expreß gemiethet, um Ihnen diesen Brief zu bringen; es ist zu Ihrem Befehl, bedienen Sie sich desselben, um herüber zu kommen, und vor allen Dingen, verlieren Sie keinen Augenblick, wenn Sie die zärtlichste Geliebte, die je gelebt hat, noch sehen wollen.
Achtundzwanzigster Brief.
Julie an Clara.
Wie verbittert mir deine Abwesenheit das Leben, das du mir wieder geschenkt hast! Welche Genesung! Eine Leidenschaft, fürchterlicher als das Fieber und die Irre reißt mich ins Verderben hin. Grausame! Du verlässest mich, da ich deiner am meisten bedarf; auf acht Tage hast du mich verlassen, du wirst mich vielleicht nie wiedersehen. O, wenn du wüßtest, was mir der Unsinnige anzutragen wagt! .... Und mit welchem Tone! Fliehen! Ihm folgen! Eine Entführung! .... Der Unselige! .... Ueber wen beklage ich mich? Mein Herz, mein schnödes Herz treibt mich hundertmal mehr dazu als er .... Großer Gott! wie würde es erst sein, wenn er Alles wüßte? er würde wüthen, ich würde fortgerissen werden, ich müßte fort .... Ich bebe ....
Endlich hat mich mein Vater denn verkauft! er macht aus seiner Tochter eine Waare, eine Sklavin! er trägt seine Schuld auf meine Kosten ab! er bezahlt sein Leben mit dem meinigen! .... denn, das fühle ich wohl, ich werde es nicht überleben .... Hartherziger, unnatürlicher Vater! Verdient er .... Was! Verdienen! er ist der beste der Väter, er will seine Tochter mit seinem Freunde verbinden, das ist sein Verbrechen. Aber meine Mutter, meine zärtliche Mutter! was hat sie mir zu Leide gethan? .... Ach, viel, sie hat mich zu sehr geliebt, sie hat mich ins Verderben gebracht.
Clara, was werde ich thun? was wird aus mir werden? Hans kommt nicht. Ich weiß nicht, wie ich dir diesen Brief schicken soll. Ehe du ihn empfängst .... ehe du zurück bist .... wer weiß? .... flüchtig, umherirrend, entehrt .... es ist aus, die Entscheidung ist da. Ein Tag, eine Stunde, ein Augenblick vielleicht .... Wer kann seinem Schicksale entgehen? .... Oh! An welchem Ort ich lebe und sterbe, in welchen finsteren Winkel ich meine Schande und Verzweiflung schleppe, Clara, vergiß deine Freundin nicht .... O Gott! Elend und Schmach verwandeln die Herzen Ach! Wennje das meinige dich vergißt, muß es sehr verwandelt sein.
Neunundzwanzigster Brief.
Julie an Clara.
Bleibe, o bleibe, komm nie zurück! du kommst zu spät. Ich darf dich nicht mehr sehen; wie könnte ich deinen Anblick aushalten?
Wo warest du, meine süße Freundin, mein Schirm, mein Schutzengel? Du hast mich verlassen und ich bin vernichtet. Wie! war sie so nöthig, oder so dringend, diese unglückselige Reise? konntest du mich mir selbst überlassen in dem gefährlichsten Augenblicke meines Lebens? Was für Leid hast du mir bereitet durch diese sträfliche Versäumniß! Es wird ewig sein wie meine Thränen. Dein Verlust ist nicht weniger unersetzlich als der meinige, und eine andere Freundin, deiner werth, ist nicht leichter wieder zu erlangen als meine Unschuld.
Was habe ich da gesagt, Elende ich? Ich kann nicht reden, nicht schweigen. Was nutzt schweigen, wenn das Gewissen schreit? Wirft nicht die ganze Welt mir meinen Fehltritt vor? Ist meine
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