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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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des deinigen ist! Sei gerechter gegen dich, meine Julie! sieh mit weniger befangenem Auge die geheiligten Bande an, welche dein Herz geknüpft hat. Bist du nicht den reinsten Gesetzen der Natur gefolgt? Hast du nicht freiwillig das heiligste Bündniß geschlossen? Was hast du gethan, das nicht die göttlichen und menschlichen Gesetze gutheißen könnten und müßten? Was fehlt dem Bande, das uns vereint, als eine öffentliche Erklärung? Wolle mein sein, und du bist nicht weiter strafbar. O meine Gattin! meine würdige, keusche Gefährtin! O Wonne und Glück meines Lebens! Nein, nicht das, was deine Liebe gethan hat, kann ein Verbrechen sein, sondern was du ihr rauben möchtest: nur wenn du jetzt einen anderen Gatten annimmst, kannst du die Ehre beleidigen. Gehöre auf ewig dem Freunde deines Herzens, um unschuldig zu sein. Das Band, das uns bindet, ist rechtmäßig, nur die Untreue, welche es zerrisse, wäre zu tadeln, und der Liebe gebührt es fortan, Bürge der Tugend zu sein.
    Wenn aber dein Schmerz vernünftig wäre, wenn deine Klage gegründet wäre, warum entziehst du mir, was mir gehört? Warum vergießen nicht meine Augen die Hälfte deiner Thränen? Du hast kein Leid, das ich nicht fühlen muß, kein Gefühl, das ich nicht theilen muß; und mein Herz wirft dir in gerechter Eifersucht jede Thräne vor, die du nicht in meine Brust schüttest. Sage, du kalte, liebe Geheimnißkrämerin, ist nicht Alles, was deine Seele der meinigen nicht mittheilt, ein Diebstahl, den du gegen die Liebe verübst? Muß nicht Alles zwischen uns gemein sein? Erinnerst du dich nicht mehr, daß du es gesagt hast? Ach, könntest du so lieben wie ich, so würde dich mein Glück ebenso trösten, wie dein Leid mich betrübt, und du würdest meine Freude fühlen, wie ich deine Traurigkeit fühle.
    Aber ich sehe es wohl, du verachtest mich als einen Sinnlosen, weil meine Vernunft sich verirrte im Abgrund der Wonne, Mein stürmisches Entzücken erschreckt dich, meine Raserei jammert dich, und du fühlst nicht, daß keine menschliche Kraft stark genug ist, um ein gränzenloses Glück zu tragen. Wie kannst du verlangen, daß eine fühlende Seele unendliches Gute mit Maßen genieße? Wie kannst du verlangen, daß sie so viele Entzückungen zugleich aushalte, ohne außer sich zu gerathen? Weißt du nicht, daß es eine Gränze giebt, wo keine Vernunft widersteht, und daß kein Mensch auf der Welt ist, dessen Besonnenheit jede Probe aushielte? Habe daher Geduld mit der Fieberwuth, in die ich durch dich gefallen bin, und verachte nicht einen Irrsinn, der dein Werk ist. Ich bin nicht bei mir, ich gestehe es; meine Seele, mir entwandt, ist ganz in dir. Ich bin desto mehr im Stande, deine Schmerzen zu fühlen, und desto würdiger, sie zu theilen. O Julie, verstecke dich nicht vor deinem Selbst.
     
Zweiunddreißigster Brief.
Antwort.
    Es gab eine Zeit, mein liebenswürdiger Freund, wo unsere Briefe leicht und reizend waren; das Gefühl, welches sie uns eingab, floß mit natürlicher Anmuth: es bedurfte keiner Kunst und Schminke, und seine Reinheit war sein ganzer Schmuck. Diese glückliche Zeit ist nicht mehr! ach! sie kann nie wiederkehren; und die erste Wirkung dieses grausamen Wechsels ist, daß unsre Herzen aufgehört haben sich zu verstehen.
    Deine Augen haben meine Schmerzen gesehen. Du glaubst, die Quelle derselben entdeckt zu haben; du willst mich trösten mit eitelen Reden, und wenn du mich zu täuschen denkst, o Freund, du täuschest nur dich. Glaube mir, glaube dem zärtlichen Herzen deiner Julie; mein Schmerz ist viel weniger dies, daß ich der Liebe zu viel gewährt, als daß ich sie ihres größten Reizes beraubt habe. Jener süße, zauberische Hauch der Tugend ist dahin wie ein Traum; unsere Flamme hat jenes Himmelsfeuer eingebüßt, welches sie anfachte, indem es sie reinigte; wir haben die Lust gesucht, und weit entflohen ist das Glück. Erinnere dich jener köstlichen Augenblicke, wo unsere Herzen sich um so inniger verschmolzen, je mehr Scheu wir einander erwiesen, wo die Leidenschaft aus ihrer eigenen Ueberfülle die Kraft nahm, sich selbst zu besiegen, wo die Unschuld uns für den Zwang, den wir uns auferlegten, schadlos hielt, wo die Opfer, die wir der Ehre brachten, alle zum Vortheil der Liebe ausschlugen. Vergleiche jenen zauberischen Zustand mit unserer gegenwärtigen Lage! was für Gemüthserschütterung! was für Aengste! was für tödtliche Unruhe! Wie haben die ungemäßigten Gefühle ihre frühere Süßigkeit verloren!

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