Julie u Julia - 365 Tage, 524 Rezepte Und 1 Winzige Küche
zu erwarten«, erklärte Heathcliff. (Natürlich heißt mein Bruder nicht wirklich Heathcliff. Texaner schottisch-irischer Abstammung nennen ihre rothaarigen Kinder nicht Heathcliff. Aber es macht mir Spaß, ihn so zu nennen - erstens weil es ihn ärgert, und zweitens weil »Heathcliff« so gut zu seiner sardonisch-grüblerischen Erscheinung passt.)
Heathcliff ist der Typ, den man als Sekundanten in einem Duell haben möchte oder der einem bei einem Feuergefecht den Rücken freihält; er ist der geborene Vizepräsidentschaftskandidat im Wahlkampf oder der ideale Partner in einer Reality-Show, bei der man Fremdsprachen sprechen, von hohen Klippen springen oder Insekten essen muss. Unvorstellbar, dass er am Telefon das Personal anbrüllt oder in der U-Bahn katastrophale Wutausbrüche bekommt, zwei Verhaltensweisen, zu denen ich mich häufig hinreißen lasse. Aus diesem Grunde und auch weil Eric einen Kater auskurierte, für den ich mich verantwortlich fühlte, nahm ich Heathcliff mit, um die Lage bei U-Haul zu klären, und alles wurde bemerkenswert mühelos geregelt. (Wenn Eric dabei gewesen wäre, hätten wir wohl am Ende dieses Tages immer noch hin und her debattiert.)
Soweit ich sah, ging alles glatt. Das einzige ungelöste Problem war Sally.
Den Sommer über hatte meine Freundin Sally bei ihrem neuesten Freund gewohnt, einem Briten, der an seiner Dissertation schrieb und sich um einen Job bei der UNO bewarb. Doch vor kurzem war er unter verdächtigen Umständen »über den Großen Teich« zurückgeflohen, wie er peinlicherweise sagte, und Sally zog jetzt wieder zurück in ihr altes Apartment, wo sie in den letzten Jahren schon mehrmals ein- und ausgezogen war. Sally war früher mal auf eine Rabbinerschule gegangen, und das erwies sich als großer Vorteil, denn selbst als ehemaliger New Yorker Rabbinerlehrling hatte sie noch Zugang zu den wunderbaren alten Vorkriegswohnungen an der Upper West Side. Immer zieht jemand vorübergehend aus, geht für ein Jahr in einen Kibbuz oder bildet sich fort oder so was, und deshalb sucht immer jemand nach einem Mitbewohner. Sally hat schon zwei- oder dreimal in genau diesem Apartment gewohnt. Der einzige Nachteil ist, dass sie an der Upper West Side leben muss und die Räume wegen des ständigen Kommens und Gehens nicht gerade übermäßig heimelig oder besonders aufwändig möbliert sind. Deshalb wollte Sally am Nachmittag mit ein paar Möbelpackern bei mir in Brooklyn vorbeikommen und das große Bettsofa abholen, unser letztes großes Möbelstück, damit wir es los waren. Wieder und wieder rief ich Sally auf dem Handy an, aber sie ging nicht ran. Schon unterwegs, hörten wir im Radio von fünf Überfällen mit Schießereien in einem Vorort in Maryland - zufällig genau dort, wo Sallys Eltern wohnten. »Oh, nein«, hauchte ich vor mich hin.
»Es ist sicher alles okay«, sagte Eric.
»Hoffentlich. Wenn ihre Eltern erschossen worden sind, weiß ich nicht, was wir mit dem Scheißsofa machen sollen.«
»Wieso ziehst du von hier weg? Warum machst du das?«, seufzte Mom, als wir den Belt Parkway an der Ausfahrt 69. Straße verließen und erst an friedlichen Häuserblocks mit Rasen und dann an dem riesigen grünen Park entlangfuhren. Man hat hier einen herrlichen Blick auf die Verrazano Bridge, wo John Travoltas Freund sich in »Saturday Night Fever« umbringt, auf den Hafen von New York und auf Staten Island.
Die gleiche Frage hatte sie mir zu meinem Kochprojekt gestellt, und die Antwort lautete ebenfalls gleich. Gleich und ebenso unaussprechlich. Ich konnte die Verzweiflung nicht erklären, die mich spätabends in der U-Bahn befiel, wenn vierzig Minuten lang kein R-Train kam und der Bahnsteig überfüllt war wie in der Stoßzeit. Ich konnte ihr nicht erklären, wie verloren ich mich fühlte, wenn ich eingesperrt war in diese pneumatische Röhre mit dem Pendlerzug, der mich jeden Morgen auf einen grauen Bürgersteig ausspuckte, auf dem es von Männern in Anzügen nur so wimmelte, und abends im friedlichen, abgeschiedenen, hoffnungslos anständigen, fernen Brooklyn wieder ausspuckte. Ich konnte ihr nicht erklären, warum ich glaubte, ein weiteres solches Jahr würde mich und vielleicht sogar meine Ehe kaputtmachen. Ich konnte es nicht erklären, weil es vermutlich keine Erklärung dafür gab.
Mom wusste sehr wohl, was sie in der alten Wohnung erwarten würde, schon wegen unserer 29½-jährigen gemeinsamen Geschichte, aber auch wegen eines Vorfalls, der erst zwei Wochen
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