Julie u Julia - 365 Tage, 524 Rezepte Und 1 Winzige Küche
strahlte, ihr Haar wirkte wie ein witziger, rostroter Heiligenschein. Rings um sie saßen Männer und Frauen in verschiedenen Stadien der Trunkenheit und Ausgelassenheit, manche umfassten den Stiel ihres eingeschmuggelten Martiniglases wie sie, anderen fielen vor Lachen fast vom Stuhl. Paul wusste, es wäre am besten, wenn er in die allgemeine Fröhlichkeit einstimmte. Doch es war ihm zu viel Lärm, deshalb trank er seinen Gin mit Orangensaft in aller Ruhe an einem kleinen, mit Wachstuch bedeckten Tisch in der Ecke und hörte nur zu. In dem Anwesen, auf dem die OSS-Mitarbeiter hier in Ceylon zusammenhausten, gab es keine richtige Bar, und so hatte jemand netterweise für die durstigen Amerikaner eilends das Wohnzimmer mit ein paar Tischen und nicht dazu passenden Stühlen voll gestellt. Der Raum war klein und überfüllt, und in dem flackernden gelben Licht der Gaslampen konnte sich Paul leicht unbemerkbar machen.
»So!, sagte ich.« Die Archivarin schlug mit ihren Riesenflossen auf die Tischplatte, lehnte sich vor, guckte nach links und hob die Brauen. »So, sagte Alice.« Ihre Augen schossen nach rechts, erst weit aufgerissen, dann in komischem Argwohn zusammengekniffen. Alle um den Tisch kicherten erwartungsvoll, während die Archivarin den Augenblick nahezu unerträglich hinauszögerte, sich zusammenkauerte und den Blick hin und her wandern ließ. »Wer kriegt den ersten Cocktail?«
Das Gelächter hallte durch den Raum wie Artilleriefeuer, am lautesten das der Archivarin. Paul wusste nicht, ob er mitlachen oder verschwinden sollte.
»Sagt mal, ich hab solchen Hunger, ich schau schon ganz kariert«, rief sie. Der Pöbel brüllte zustimmend »Oje!«. Paul wunderte sich, dass er auch ein hungriges Magenknurren spürte, das erste nach wochenlangem »Delhi Belly«. »Ich weiß, was wir machen. Wir gehen in die Stadt. Neulich bin ich an einem Restaurant vorbeigekommen, wo es köstlich gerochen hat!«
Bateson hob halbherzig einen Finger. »Julie, dein Magen ist noch nicht wieder...«
»Ach, hör auf, Gregory!«, krächzte die Archivarin fröhlich. »Mein Magen verträgt keine Dosenkartoffeln mehr, so sieht es aus. Komm, wir essen ceylonesisch!«
Mit großem Hallo und Stuhlbeingescharre erhob sich die ganze Gesellschaft. Sie zogen hinaus in die Dunkelheit.
Hatte ihn diese unerträglich sprudelnde, seltsam unwiderstehliche Riesenfrau neugierig gemacht? Oder hatte er nur Hunger? Paul wusste es nicht, und er dachte auch nicht allzu viel darüber nach, er ging einfach mit.
36. TAG, 48. REZEPT:
Mark und Bein
V orweg eine kleine Information: Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Julia Child für eine Geheimorganisation namens OSS, das ist die Abkürzung für Office of Strategic Services. Ein wunderbar nichts sagender Name für einen Spionage-Verein. Damals hieß sie noch Julie McWilliams, war 32 und ledig und wusste nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Vielleicht hat sie geglaubt, sie würde eine gute Spionin abgeben, obwohl man sich nur schwer vorstellen kann, wie eine 1,88 große, rothaarige Frau beispielsweise in Sri Lanka möglichst unauffällig bleiben will. Natürlich hat sie nicht spioniert, und wenn doch, würde sie es uns wahrscheinlich nicht sagen.
In gewisser Weise befand ich mich in einer ähnlichen Situation. Auch ich arbeitete für eine staatliche Behörde - wenn auch nicht besonders Spionage-orientiert - zu einem historisch bedeutsamen Zeitpunkt. Meine Behörde hatte anstrengende Wochen vor sich, ihre Aufgabe bestand damals überwiegend darin, das Loch zu füllen, wo ehedem die Türme des World Trade Centers gestanden hatten. Das ist ein spannender Auftrag für eine Behörde, sie muss noch nie da gewesene Baugesuche und dergleichen bearbeiten, und wahrscheinlich war das einer der Gründe, warum ich klein beigab und mich im Mai 2002 fest anstellen ließ. Aber nun war es einmal so. Fast ein Jahr nach den Angriffen oder tragischen Ereignissen oder wie man das nennen will - selbst in der Behörde taten sich die Beamten noch immer schwer damit; die meisten entschieden sich für »11. September«, was sich zumindest neutral anhörte, besser als »Nine Eleven«, was nach Deo oder so was klang -, fast ein Jahr später also mussten Gedächtnisfeiern veranstaltet, kühne Neuentwürfe vorgestellt, öffentliche Kommentare eingeholt und bei Gouverneuren sowie beim Bürgermeister Geld lockergemacht werden.
Das Amt hatte einen Wettbewerb für ein inspirierendes Motto ausgeschrieben. Der Gewinner
Weitere Kostenlose Bücher