Julie u Julia - 365 Tage, 524 Rezepte Und 1 Winzige Küche
September, und ich saß hinter meinen Trennwänden - dem vierten Kabuff seit Beginn meiner Arbeit in dieser Behörde -, drehte mich auf meinem Bürostuhl und zerfurchte mir mit den Fingernägeln die Stirn, während ich mechanisch in mein Headset murmelte: »Ja, Sir, ich verstehe Ihre Sorge, dass diese Behörde auf die New Yorker Polizisten so was von scheißt. Würden Sie uns Ihre Ansicht jedoch bitte schriftlich mitteilen?«
Als der Jahrestag näher rückte, wurden wir von immer mehr bedeutenden Persönlichkeiten, trauernden Familien und Reportern überflutet. Der Saal für die Pressekonferenzen lag genau gegenüber von meinem Schreibtisch; ich wusste sehr wohl, dass ich eigentlich ein amtlich-würdevolles Benehmen an den Tag hätte legen müssen. Aber offen gestanden konnte ich einfach keine besorgte Miene aufsetzen. Teils wegen meiner Unfähigkeit zu amtlicher Würde, teils und vor allem wegen des Telefons.
Als Julia Child in Ceylon arbeitete, hatte sie wahrscheinlich nicht mal ein Telefon auf ihrem Schreibtisch. Ich glaube nicht, dass es damals in Kandy viele internationale Telefonanschlüsse gab. Mein Telefon dagegen ist ständig in Betrieb. Es hat acht Leitungen und blinkt unaufhörlich. Manchmal telefoniere ich auf vier oder fünf Leitungen gleichzeitig. Ich spreche mit Schreihälsen, geduldigen Erklärern und einsamen Alten. Das sind die Schlimmsten. Ich weiß nie, wie ich der ans Haus gefesselten alten Dame in Staten Island, die fest glaubt, der berühmte Architekt aus Soundso habe die Idee für das Denkmal von ihr gestohlen, denn das Foto in der Zeitung sehe genauso aus wie die Sammlung von Kristall-Briefbeschwerern in ihrer Vitrine, auf nette Weise sagen soll: »Vielen Dank für Ihren Beitrag, Sie dumme Gans... und tschüs!« Und dann muss ich die Post durchsehen - Zeichnungen mit überdimensionierten Kirchturmspitzen, die aussehen wie die Betenden Hände, oder Modelle aus Eis-am-Stiel-Stielen, Styroporbechern und mit Temperafarbe betupften Wattebäuschen. Alles natürlich sorgfältig archiviert und katalogisiert, vermutlich für eine Ausstellung schizophrener Kunst in ferner Zukunft.
Manchmal, wenn es ganz schlimm wird, überlege ich, ob ich nicht einfach in Tränen ausbrechen soll. Das wäre wahrscheinlich genau der wehleidige Scheiß, den sie von einer Demokratin erwarten, und vielleicht hätte ich Glück, und sie schüttelten den Kopf und ließen mich mit einer kalten Kompresse heimgehen. Aber ich habe einen Ruf zu verteidigen. Ich bin keine Heulsuse - zumindest nicht an meinem Arbeitsplatz. Ich pflege eher das holzschnittartige Image einer taffen Braut aus den Zwanzigerjahren, ironisch, hysterisch und mit dunklen Ringen unter den Augen. Statt zu heulen, seufze ich also nur, wenn mich eine trauernde Witwe um ein Kleenex bittet, oder lasse müde den Kopf auf die Tischplatte fallen, während ich mit einer Frau telefoniere, die nicht mehr gehen kann, seit einer Woche ihre Wohnung nicht verlassen hat, vorher ein tolles Revuegirl gewesen ist und in Filmen mitgespielt hat, jetzt aber ihre Arztrechnungen nicht mehr bezahlen kann und findet, das einzig Angemessene für Ground Zero sei eine Reproduktion der Weltausstellung von 1939. Statt zu heulen, mache ich vernichtende Bemerkungen über kleine alte Männer, die Gedichte einschicken mit Titeln wie »Die Engel von 911«. Damit vergeht wenigstens die Zeit. Aber verbissener Zynismus macht griesgrämig, und zu viel davon kann der Seele bleibenden Schaden zufügen.
Vier Tage, nachdem sie angekommen waren, steckte ich meine Eltern wieder in ein Flugzeug zurück nach Austin, wo das Leben leichter ist. Mittlerweile litten wir alle an jenen anhaltenden, bohrenden Kopfschmerzen und schraubstockartigen Krämpfen in der Leibesmitte, die ein Besuch meiner Eltern in New York unvermeidlich nach sich zieht. Irgendetwas ist falsch an der Lebensführung, wenn man sich darauf freut, zu der entschlackenden Julia-Child-Diät zurückzukehren. Am Abend nach der Abreise meiner Eltern aßen wir Poulet Poêle à l’Estragon, dazu fertig gekauften Blattsalat, und ich kam mir sehr tugendhaft vor, weil ich für eine Drei-Personen-Mahlzeit weniger als ein Viertel Butter gebraucht hatte.
Heathcliff blieb noch eine Zeit lang in New York, weil er einen Job gefunden hatte. Wie, war mir nicht ganz klar. In den letzten Tagen hatte er ständig Anrufe auf seinen beiden Handys erhalten. Er erzählte uns nie, was dabei besprochen wurde, aber nach einem dieser Gespräche zog er mich
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