Juliet, Naked
eindeutig Tucker, und sie war relativ sicher,
dass der Junge sich anschließen würde, wenn Tucker einen eindeutigen Standpunkt vertrat. Sie würde ihm anbieten, mit Cat einmal
in der Woche oder täglich E-Mail-Kontakt zuhalten, und sie konnte dann Bilder anhängen, oder sie telefonierten, oder sie lud dieses Dings runter, mit dem man jemand
in Australien oder so im Computer sehen konnte, und Cat war auch jederzeit eingeladen zu kommen … Wenn alle an einem Strang
zogen, konnte es funktionieren. Denn was war schließlich die Alternative? Dass sie einfach nach Hause fuhren und ihr Leben
wieder aufnahmen, als wäre nichts passiert?
Blieb natürlich das Problem, dass tatsächlich nichts passiert war . Wenn Tucker und Jackson ihre Gedanken lesen könnten, würden sie sich jetzt schon rückwärts aus dem Haus schleichen, Tucker
irgendeine improvisierte Waffe schwingend, um seinen Sohn zu beschützen. Trug sich ihre Mutter mit ähnlichen Fantasien, wenn
Weihnachten vorbei war und sie wusste, dass sie für die nächsten elf und dreiviertel Monate allein sein würde? Wahrscheinlich.
Alles war zu früh gekommen, das war das Problem. Annie wäre durchaus damit zufrieden gewesen, sich auf E-Mails von Tucker
zu freuen, mit der entfernten und verlockenden Möglichkeit, sich irgendwann persönlich zu treffen, aber dieser Traum sollte
langsam reifen, über die Monate und schließlich Jahre. Aber wegen der diversen medizinischen Missgeschicke hatte sie alles
innerhalb weniger Wochen verschlungen, und jetzt saß sie da mit einer leeren Pralinenschachtel und leichter Übelkeit.
Sie musste schließlich widerstrebend eingestehen, dass sich die jüngsten Ereignisse auch anders interpretieren ließen: Das
Problem war nicht die leere Pralinenschachtel, sondern die Metapher an sich. Den kurzen Besuch eines Manns mittleren Alters,
der seinen kleinen Sohn mitbrachte, sollte man nicht als Confiserie betrachten – wenn überhaupt, war er ein Ei-und-Kresse-Sandwich,
eine achtlos gelöffelte Schale Cornflakes, einApfel, den man sich aus dem Obstkorb nahm, wenn man keine Zeit für eine richtige Mahlzeit hatte. Irgendwie hatte sie ein derart
leeres Leben konstruiert, dass sie jetzt beim entscheidenden erzählerischen Moment der gesamten letzten zehn Jahre angekommen
war – und was hatte sie vorzuweisen? Falls die beiden doch entschieden, dass ihr Lebensmittelpunkt anderswo läge – und bis
jetzt hatten sie ihr keine Veranlassung gegeben, etwas anderes anzunehmen –, musste sie, wenn sie doch einmal wiederkämen,
so tun, als sei Tuckers und Jacksons Besuch ihr im Grunde lästig, als hätte sie gut darauf verzichten können, als würde sie
sich schon ein paar Wochen nach ihrer Abreise nicht mehr daran erinnern. So verhielt es sich doch normalerweise mit Besuch,
oder?
Als sie nach unten kam, trug sie einen Rock und hatte eine Spur Make-up aufgelegt, und Tucker sah sie an.
»O Schitt«, sagte er.
Es war nicht das, worauf sie gehofft hatte, aber immerhin eine Reaktion. Zumindest war es ihm aufgefallen.
»Was?«
»Ich werd wohl so gehen müssen. Ich hab möglicherweise noch ein sauberes T-Shirt, aber auf dem steht wahrscheinlich der Name
eines Stripteaseschuppens. Es ist nicht so, dass ich da Stammkunde bin. Es war ein sehr lieb gemeintes Geschenk. Was ist mit
dir, Jack? Hast du noch irgendwas Sauberes?
»Ich hab ein paar Sachen gewaschen«, sagte Annie. »Auf deinem Bett liegt ein frischer Dingsda-Mann.«
Es gab wahrscheinlich viele Frauen, die diesen Satz einige Tausend Mal pro Woche sagen mussten, ohne dabei von ihren Gefühlen
überwältigt zu werden – und wenn doch, empfanden sie wahrscheinlich eher abgrundtiefesSelbstmitleid als diesen Schmerz aus Liebe, Verlustangst, sehnsüchtigem Verlangen. Irgendwie erschien ihr das geradezu erstrebenswert:
Ach, käme sie doch an einen Punkt, an dem sie sich am liebsten erhängen würde, weil einem Kind ein T-Shirt aufs Bett zu legen
einem quälend langsamen seelischen Tod gleichkam. Im Moment hatte sie den Wunsch, sich aufzuhängen, weil es ihr als erste,
zaghafte Hoffnung auf Wiedergeburt erschien.
»Spider. Ist Spiderman okay für deine Party?«
»Ich bin die Einzige, die schick aussehen muss«, sagte sie. »Ihr seid die exotischen Gäste.«
»Nur weil wir in T-Shirts kommen«, sagte Tucker.
»Und ihr kommt aus den USA. Als wir angefangen haben, unsere ›Gooleness in den Sechzigern‹-Ausstellung zu planen, haben wir
wirklich nicht
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