Juliet, Naked
in Bozeman, Montana, besichtigt, wo – wie aufregend! – eine alte Dame aus ihrem Haus
gekommen war und ihnen erzählte, dass Tucker als Kind immer den alten Buick ihres Mannes gewaschen hatte. Das Haus der Crowes
war klein und hübsch und gehörte heute dem Besitzer einer kleinen Druckerei, der überrascht war, dass sie extra aus dem fernen
England angereist waren, um sich sein Haus von außen anzugucken; hereinbitten wollte er sie dann aber doch nicht. Von Montana
aus waren sie nach Memphis geflogen, wo sie das Gelände des alten American Sound Studios besichtigten (das Gebäude selbst
war 1990 abgerissen worden), in dem Tucker betrunken und krank vor Liebeskummer Juliet aufgenommen hatte, sein legendäres Break-up-Album, das Annie von allen seinen Platten am besten gefiel. Vor ihnen lag noch
Berkeley, Kalifornien, wo Juliet – im wirklichen Leben ein Exmodel und It-girl namens Julie Beatty – immer noch lebte. Dort
würden sie sich vor ihr Haus stellen, so wie sie sich vor das Haus des Druckereimenschen gestellt hatten, bis Duncan kein
Grund mehr einfiel, das Haus noch länger anzustarren, oder Julie die Polizei rief – ein Los, das schon einige Crowe-Fans ereilt
hatte, wie Duncan von den Messageboards wusste.
Annie bereute diese Reise nicht. Sie war schon öfter in den USA gewesen, in San Francisco und New York, aber es gefiel ihr,
dass Tucker sie an Orte führte, die sie sonst nie besucht hätte. Bozeman zum Beispiel hatte sich als reizendes kleines Städtchen
in den Bergen entpuppt, das von exotisch klingenden Gipfelketten umgeben war, von denen sie noch nie gehört hatte: Big Belt,
Tobacco Root und die Spanish Peaks. Nachdem sie das kleine und unspektakuläre Haus angestarrt hatten, waren sie durch den
Ort geschlendert und hatten vor einemBio-Café in der Sonne Eistee genippt, während im Hintergrund einer der spanischen Gipfel, vielleicht auch die Spitze eines
Tobacco Roots den klaren, blauen Himmel zu durchstoßen drohte. Sie hatte schon schlimmere Vormittage auf Urlaubsreisen verbracht,
von denen sie sich wesentlich mehr versprochen hatte. Was sie anbelangte, war es wie eine Fahrt ins Blaue durch die USA. Natürlich
ging es ihr irgendwann auf die Nerven, andauernd mit Informationen über Tucker gefüttert zu werden, über ihn zu reden, seine
Musik zu hören und die Gründe hinter jeder noch so kleinen kreativen und persönlichen Entscheidung verstehen zu müssen. Aber
zu Hause ging ihr Tucker Crowe genauso auf die Nerven, da zog sie es doch vor, dass er ihr in Montana oder Tennessee zum Hals
raushing, anstatt in Gooleness, dem kleinen Küstenort in England, wo sie mit Duncan wohnte.
Ein Ort lag nicht auf ihrer Reiseroute, und das war Tyrone in Pennsylvania, wo Tucker heute angeblich lebte, auch wenn es
wie bei allen Orthodoxien auch hier Häretiker gab: Ein oder zwei aus der Crowe-Gemeinde vertraten die Theorie – interessant
aber absurd, wie Duncan fand –, dass er seit den frühen Neunzigern in Neuseeland lebe. Tyrone war als mögliches Ziel bei der
Planung ihrer Reise nicht einmal genannt worden, und Annie glaubte zu verstehen, warum. Vor einigen Jahren war einer der Fans
nach Tyrone gereist, hatte sich dort eine Weile herumgetrieben und schließlich das entdeckt, was er für Tucker Crowes Farm
hielt; er war mit der Fotografie eines erschreckend ergrauten Mannes zurückgekehrt, der mit einer Schrotflinte auf ihn zielte.
Annie hatte das Bild viele Male gesehen und fand es fürchterlich. Das Gesicht des Mannes war zu einer Grimasse von Wut und
Panik entstellt, so als drohealles, wofür er je gearbeitet und woran er geglaubt hatte, von einer Canon Sureshot vernichtet zu werden. Mit der Vergewaltigung
von Tuckers Privatsphäre hatte Duncan dabei gar nicht mal ein Problem: Der andere Fan, Neil Ritchie, hatte es im Kreis der
Anhänger fast zum Ruf eines Abraham Zapruder gebracht, worum ihn Duncan, wie Annie mutmaßte, heimlich beneidete. Was ihn viel
mehr ängstigte, war der Umstand, dass Tucker Crowe Neil Ritchie ein »dreckiges Arschloch« genannt hatte. Duncan hätte so etwas
nicht verkraftet.
Nach dem Besuch der Toilette im Pits folgten sie dem Ratschlag des Portiers und aßen ein paar Straßen weiter in einem Thai-Restaurant
im Riverfront District zu Mittag. Wie sich herausstellte, lag Minneapolis am Mississippi – wer wusste das schon, abgesehen
von Amerikanern und praktisch jedem anderen, der in Erdkunde aufgepasst hatte?
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