Juliet, Naked
unserer Stadt vorbereiten, aber wir haben nicht viel
auszustellen, abgesehen von ein paar ziemlich unappetitlichen Fotos von einem toten Hai, der im besagten Jahr an den Strand
gespült wurde. Und seit heute Morgen noch ein Auge, das offenbar mal diesem Hai gehört hat. Vor ein paar Stunden kam ein Mann
ins Museum und brachte irgendwas, höchstwahrscheinlich ein Hai-Auge, das in Essig eingelegt in einem Marmeladenglas schwimmt.
Der Mann behauptet, sein Bruder hätte es dem Hai mit dem Taschenmesser rausgeschnitten. Bislang ist es das Prunkstück unserer
Ausstellung. Du würdest nicht zufällig gerne ein Konzeptalbum über den Sommer 1964 in einem kleinen englischen Badeort machen,
oder? Auch wenn ich dann immer noch nicht viel auszustellen hätte.
Sie hörte auf zu tippen. Hätte sie mit Stift und Papier geschrieben, hätte sie das Papier nun angewidert zerknüllt, aber bei
E-Mails gibt es dafür kein befriedigendes Äquivalent, schließlich ist alles extra so angelegt, dass man keine Fehler machen
kann. Sie brauchte eine Scheiß-drauf-Taste, die ein befriedigendes Ka-Bung machte, wenn man draufhaute. Was tat sie da überhaupt?
Gerade hatte sich ein Einsiedler bei ihr gemeldet, ein Mann, der sich seit über zwanzig Jahren vor der Welt versteckte, und
sie erzählte ihm etwas von einem eingelegten Hai-Auge. Ob ihn das wirklich interessierte? Und was war mit ihrem Kinderwunsch?
Warum erzählte sie keinem anderen davon? Einer Freundin beispielsweise. Oder sogar Duncan, der, soweit sie es beurteilen konnte,
von ihrer Unzufriedenheit gar nichts mitbekam.
Und dann flirtete sie auch noch, auf ihre eigene reservierte und umständliche Art. Sie wünschte sich, dass er sie mochte.
Wie sonst waren die absichtlich vagen Umschreibungen ihrer Tucker-Tour durch die USA und ihre Bekanntschaft mit Menschen,
»die viel über seine Stücke nachdachten« zu erklären? Sie hätte ja auch einfach schreiben können, dass der Mann, mit dem sie
zusammenlebte, der Mann, mit dem sie keine Kinder haben würde, von Tucker Crowe besessen war, aber sie wollte nicht, dass
Tucker das wusste. Warum nicht? Glaubte sie, er würde sofort ins Flugzeug springen und sie schwängern wollen, solange er nicht
wusste, mit was für einem Menschen sie zusammenlebte? Und wenn sie eine noch so leidenschaftliche Affäre anfingen, sie konnte
sich kaum vorstellen, dass man Tucker angesichts derkomplizierten und unglücklichen Familiensituation, in der er lebte, überreden konnte, auf Verhütung zu verzichten. Großer
Gott! Selbst ihr Sarkasmus gegenüber sich selbst war erbärmlich. Jetzt machte sie schon Witze über verhütungstechnische Absprachen
mit einem Mann, dem sie noch nie begegnet war.
Aber wenn sie nichts über Hai-Augen schrieb, was sollte sie ihm dann erzählen? Er hatte ja schon alles gelesen, was sie über
seine Stücke zu sagen hatte, und sie konnte ihn schließlich nicht einfach mit Fragen bombardieren – sie ahnte, dass es eine
todsichere Methode wäre, nie wieder was von ihm zu hören. Sie war einfach der falsche Mensch für eine E-Mail-Korrespondenz
mit Tucker Crowe. Sie war zu unwissend, zu unfähig. Sie würde nicht antworten.
Eigentlich hätte sie einen heiklen Brief an Terry Jackson vom Kulturausschuss schreiben müssen, der die dumme Idee für die
Ausstellung über 1964 gehabt hatte, doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie öffnete wieder ihre E-Mail an Tucker.
Woher stammte die Idee zu Juliet ? Weißt du das noch? Hast du die Chronicles gelesen, die Dylan-Autobiografie? Da gibt’s eine
Stelle, wo irgendwer, ein Produzent möglicherweise, ihm erklärt, sie bräuchten ein Stück wie ›Masters of War‹ (war es das
auch?) am Schluss des Albums – das war in den Achtzigern, bei den Aufnahmen zu …
Doch auch der Titel des Albums fiel ihr nicht ein, sie wusste auch nicht, was Dylan erwidert hatte, als der Produzent, dessen
Name ihr nicht mehr einfiel, Dylan um einen Song wie den bat, an den sie sich nicht erinnerte und der die letzte Nummer für
welches Album auchimmer sein sollte. Sie löschte, was vielleicht eine interessante Nachforschung hätte werden können. Duncan hätte das natürlich
alles gewusst, und er sollte derjenige sein, der an Tucker schrieb, nur dass Tucker nichts von ihm würde hören wollen. Und
natürlich hatte sie Duncan noch nicht erzählt, was sie in ihrem Posteingang gefunden hatte, und hatte auch keine Lust dazu.
Eigentlich brauchte sie gar
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