Juliet, Naked
Baltimore. Es geht da natürlich auch noch um viele andere Sachen, aber
all die anderen Sachen machen sie dir auch nicht ähnlicher, wenn du verstehst, was ich meine, daher lass ich das mal außen
vor.«
Das kam irgendwie nicht richtig rüber, aber er würde es jetzt trotzdem durchziehen. »Aber in manchen wichtigen Punkten bist
du genauso.«
»Ach ja? Red weiter. Das interessiert mich.« Sie saheher belustigt als abgestoßen aus. Vielleicht kam er mit der Nummer ja durch.
»Tja, ich kenn dich ja erst seit kurzem. Aber als du da heute im Dozentenzimmer gesessen hast …« Er wollte ihr bloß ein Kompliment
machen, ihr sagen, dass er sie attraktiv fand und froh war, dass sie ans College gekommen war. Nur hatte er sich jetzt in
dieses blöde Wire-Ding verrannt. »Nun, du stichst da raus wie ein blutender Daumen. In positiver Weise natürlich, nicht in
Blutender-Daumen-Weise. Alle anderen sind so gesetzt und verbittert, und du bringst Schwung in den Laden. Du bist so fröhlich,
so schwungvoll und hübsch, und … okay, The Wire ist nicht fröhlich. Oder hübsch. Aber wenn man sich die ganzen anderen Serien im Vergleich dazu ansieht … Na, man muss sie
sich ja nur ansehen. Und dann dich.«
Er glaubte, noch so eben die Kurve gekriegt zu haben.
»Besten Dank. Ich hoffe, du bist am Schluss nicht enttäuscht.«
»Oh, bestimmt nicht.«
Die unrettbare Beziehung, die Gina in Manchester hinter sich gelassen hatte, war ein Choreograf gewesen, der seine Mutter
abgöttisch liebte und Gina seit zwei Jahren nicht mehr angerührt und/oder seit drei Jahren nichts Nettes mehr zu ihr gesagt
hatte. Er war mit größter Wahrscheinlichkeit schwul und hasste Gina, weil sie es nicht geschafft hatte, ihn von seiner Neigung
zu Männern zu kurieren. Was sie nun vor allem wollte, war ein netter, aufmerksamer Mann, der sie attraktiv fand. Manchmal
sieht man Autounfälle auch schon von Weitem kommen, wenn die Straße gerade ist und beide Wagen auf derselben Seite aufeinanderzurasen.
Gina erinnerte sich nur verschwommen an Tucker Crowe, ließ sich aber gerne näher aufklären. Nach demAbend im Pub spielte Duncan ihr in ihrer kleinen und herzzerreißend untermöblierten 2-Zimmer-Wohnung oben auf dem Hügel hinter
der Stadt, weit weg vom Meer und von Annie, nacheinander Naked und Clothed auf der Docking Station ihres iPod vor. Kurz darauf, als sie genau die richtigen Dinge über die Rauheit und schmucklose Einfachheit
von Naked gesagt hatte, gingen sie miteinander ins Bett. Für Duncan jedenfalls war es Sex, der sich auch wie Sex anfühlte, etwas Drangvolles
und alarmierend Unkontrollierbares, im Vergleich zu dem, was samstagabends passierte, nachdem er sich mit Annie eine ausgeliehene
DVD angesehen hatte. Achtundvierzig unerträgliche Stunden später eröffnete er Annie in dem indischen Restaurant um die Ecke,
dass er eine andere kennengelernt hatte.
Sie trug sein Geständnis mit Fassung.
»Schön«, sagte sie. »Und ich nehme an, mit ›kennengelernt‹ meinst du etwas anderes als bloß kennengelernt, oder?«
»Ja.«
»Du hast mit ihr geschlafen.«
»Ja.«
Duncan schwitzte, und sein Herz raste. Ihm war ganz schlecht. Fünfzehn Jahre! Oder sogar noch mehr! War es wirklich möglich,
sich aus dem Schoß einer fünfzehnjährigen Beziehung in den strahlend blauen Himmel emporzuschwingen? War das überhaupt erlaubt?
Oder sollten Annie und er Kurse belegen, Paartherapie machen oder für ein oder zwei Jahre zusammen auswandern, um zu erforschen,
was schiefgelaufen war? Aber wer sollte sie dazu bringen? Niemand. Und es gab alarmierend wenig, das ihn band. Er war einer
der Ersten, wenn es darum ging, sich über die zunehmendeEinmischung des Staates in das Privatleben des Menschen zu beschweren, aber sollte es eigentlich in Fällen wie diesem nicht
doch etwas mehr Einmischung geben? Wo war der Schutzzaun, wo das Sprungtuch? Sie erschwerten es einem, von einer Brücke zu
springen, zu rauchen, eine Schusswaffe zu besitzen oder Gynäkologe zu werden. Wieso ließen sie es dann zu, dass man sich so
einfach aus einer funktionierenden Beziehung verabschiedete? Das sollte verboten sein. Wenn es nun nicht funktionierte, sah
er sich schon in Jahresfrist zu einem obdachlosen, arbeitslosen Alkoholiker verkommen. Und das wäre schlimmer für seine Gesundheit
als eine Packung Marlboro.
»Vielleicht sollte ich genauer sein: Ja, ja doch, ich habe mit ihr geschlafen, wie du sagst, doch es könnte immerhin
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