Juliet, Naked
aber dennoch aufregende Nachrichten
erhalten hatte, die nicht viel preisgaben. Nun verfügte sie über Informationen, die Duncan als Schlüssel zur Lösung aller
Rätsel des Universums betrachtet hätte. Sie wollte aus einer Vielzahl von Beweggründen nicht, dass er diesen Schlüssel bekam,
und die meisten davon waren niedere.
Sie hatte die E-Mail zwei-, dreimal gelesen und war dann früh in die Kaffeepause gegangen. Sie musste nachdenken. Oder besser
gesagt, sie musste aufhören, über das Zeug nachzudenken, über das sie nachdachte, wenn sie die Möglichkeit haben wollte, heute
noch mal über etwas anderes nachzudenken; und das, worüber sie nachdachte, war in erster Linie nicht einmal Tucker Crowe und
sein kompliziertes Leben, sondern wie sehr Naked die Atmosphäre bei ihr zu Hause vergiftet hatte.
Am gestrigen Abend war Duncan spät heimgekommen und hatte eine Fahne gehabt; er war einsilbig gewesen, schroff sogar, als
sie sich erkundigt hatte, wie sein Tag gewesen war. Er war rasch eingeschlafen, doch sie hatte wach gelegen, auf sein Schnarchen
gehört und ihn nicht gemocht. Jeder hegt irgendwann mal Aversionen gegenüber seinem Partner, das war ihr klar. Aber sie musste
während der Stunden, die sie wach lag, schwer darüber nachdenken, ob sie ihn überhaupt je gemocht hatte. Wäre es wirklich
so viel schlimmer gewesen, wenn sie all diese Jahre allein gewesen wäre? Warum mussteda noch ein anderer im Zimmer sein, wenn sie aß, Fernsehen guckte oder schlief? Ein Partner galt ja als Zeichen des Erfolges:
Jeder Mensch, der Nacht für Nacht mit einem anderen Menschen das Bett teilt, hat damit sozusagen bewiesen, dass er etwas taugt,
gewisse Fähigkeiten hat. Aber ihre Beziehung schien ihr nun eher als Zeugnis des Versagens als des Erfolges. Sie und Duncan
waren aneinander hängen geblieben, weil sie beide immer als Letzte in eine Sportmannschaft gewählt worden waren, aber Annie
fand, man unterschätze ihre sportlichen Fähigkeiten.
»Hallo, Süße«, sagte Franco, der Mann in der Coffee Bar.
»Hallo«, sagte sie. »Wie immer, bitte.«
Hätte er »Hallo, Süße« gesagt, wenn sie wirklich so unsportlich wäre? Oder las sie zu viel in die schleimige Begrüßung eines
Mannes hinein, der das geschätzte zwanzig Mal am Tag sagte?
»Wie oft am Tag sagst du das?«, fragte sie. »Nur so aus Interesse.«
»In echt?«
»In echt.«
»Nur einmal.«
Sie lachte, und er tat gekränkt.
»Du weißt ja nicht, wer sonst hier reinkommt«, erklärte Franco. »Ich könnte natürlich ›Hallo, Süße‹ zu Frauen sagen, die wie
meine Mutter aussehen oder wie meine Großmutter. Hab ich früher auch. Aber das kommt einem komisch vor. Deshalb spare ich
mir das nur für dich auf, meine jüngste Kundin.«
Seine jüngste Kundin! War etwa alles nur ein geografischer Zufall? Von diesem Städtchen konnte sie es glauben. Wären sie in
London oder Manchester gewesen, hätte Franco diese Bemerkungen nie gemacht, wäresie nicht durch die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens mit Duncan geschlafwandelt, hätte sie in Birmingham oder Edinburgh
gelebt. Gooleness, das war der Wind, die See und das Gestrige, der Geruch von Bratfett, der an allem klebte, selbst wenn niemand
etwas briet, die Eiscremebuden, die selbst dann zugesperrt waren, wenn Kundschaft da war … Und es gab die Vergangenheit: 1964,
die Rolling Stones, der tote Hai und die glücklichen Badeurlauber. Irgendwer musste dort aber auch leben. Warum nicht sie?
Auf dem Rückweg ins Büro fiel ihr ein, dass Donnerstag war, und donnerstags saß Moira am Empfang. Moira war eine ehrenamtliche
Mitarbeiterin des Museums, die davon überzeugt war, dass Annies Kinderlosigkeit Ergebnis irgendeines Mangels war, den man
kurieren konnte. Sie hatte höchstwahrscheinlich sogar recht, aber nicht so, wie sie glaubte. Sie hatten nie über dieses Thema
gesprochen und trotzdem war Moira aktiv geworden; Anlass musste allein Annies Alter sein, nicht irgendein unerfüllter Kinderwunsch,
den sie gegenüber dieser Frau, die sie ja praktisch kaum kannte, geäußert hatte. Annie hasste Donnerstage.
Heute war es Sellerie. Moira, eine muntere Achtzigjährige mit einem schönen Kopf voller lila getönter Haare, wartete schon
mit einem ganzen Haufen davon auf sie.
»Hallo«, sagte Annie.
»In den Blättern steckt das, was Sie brauchen. Besser gesagt, was er braucht.«
»Herzlichen Dank.«
»Besitzen Sie einen Mixer?«
»Ich denke schon.«
»Zerhacken Sie
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