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Juliregen

Juliregen

Titel: Juliregen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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aus dem Sattel, fasste Frühlingsmaids Zügel und führte sie zu einer Stelle, an der man sie vom anderen Ufer des Sees aus nicht entdecken konnte. Dort band sie das Tier an einen Ast und kehrte zum Ufer zurück.
    Die untergehende Sonne drang nun durch eine Lücke zwischen den Bäumen, spiegelte sich im glatten Wasser und ließ es blutrot schimmern. Bei diesem Anblick erschrak Nathalia, schalt sich dann aber eine Närrin, die weniger auf ihren Verstand als auf ihre Launen gab. Im Augenblick war ihr nur eines wichtig, nämlich dass Jürgen endlich auftauchte.
    Nathalia lief ein paar Schritte hin und her und spähte angestrengt in die Richtung, in der sie Nehlen wusste. In der Ferne entdeckte sie einen Reiter und glaubte schon Jürgen in ihm zu erkennen, doch da bog dieser weiter vorne zu einem der Nachbargüter ab.
    »Komm endlich!«, fauchte sie leise und hörte auf einmal Schritte.
    Es war Jürgen. Er führte seinen Wallach am Zügel und hatte sie noch nicht entdeckt. Jetzt schlang er die Zügel um einen Ast und schlich zum Seeufer hinunter. Sein Gesicht wirkte trotz des roten Scheins, in den die Sonne die ganze Umgebung tauchte, bleich, und er hielt die Büchse auf eine Weise in der Hand, bei der jedem Waidmann die Tränen kommen mussten.
    Da Nathalia nicht rufen wollte, um den Hirsch nicht auf sie aufmerksam zu machen, winkte sie nur. Jürgen sah es jedoch nicht, sondern blieb neben einer alten Trauerweide stehen, die ihre Äste ins Wasser hängen ließ, und starrte über das Wasser.
    Um den jungen Mann nicht zu erschrecken, blieb Nathalia nichts anderes übrig, als ihn vorsichtig anzusprechen. Sie ging so leise wie möglich auf ihn zu und flüsterte: »Herr Göde!«
    Jürgen zuckte zusammen und ließ beinahe das Gewehr fallen. Dann drehte er sich langsam um und starrte sie fassungslos an. »Komtess, Sie?«
    »Bitte seien Sie ganz leise, sonst verscheuchen Sie den Hirsch«, mahnte Nathalia ihn.
    »Aber was tun Sie hier?«, fragte Jürgen.
    Nathalia winkte mit beiden Händen ab und zeigte auf die andere Seite des Sees.
    Dort tauchte im letzten Schein der Abendsonne ein Hirsch auf, der selbst in dem warmen Abendlicht mager und krank aussah. Zwar war die linke Geweihstange völlig ausgebildet und hätte ihn zu einem prachtvollen Sechzehnender machen können, doch die andere Stange war nur halb so lang und endete in einer formlosen Geschwulst.
    Nathalia begriff, warum Graf Nehlen dieses Tier schießen lassen wollte, und stupste Jürgen an. »Jetzt machen Sie schon! Sonst ist er wieder weg.«
    Der junge Mann warf dem Hirsch einen traurigen Blick zu und hob seine Büchse an die Wange. Durch das Zielfernrohr war das Tier ganz deutlich zu erkennen. Jürgen wollte abdrücken, begann dann aber zu zittern und sah, wie der Lauf der Büchse wie betrunken hin und her wackelte. Verzweifelt versuchte er sich zusammenzureißen, doch da hob der Hirsch den Kopf und lauschte.
    Gleich ist er weg, durchfuhr es Nathalia. Ohne zu überlegen, nahm sie Jürgen die Waffe ab, schlug sie an und feuerte in dem Augenblick, in dem sie durch das Fernrohr das Schulterblatt des Tieres sehen konnte. Der Schuss krachte so laut, dass er sie fast noch mehr erschreckte als Jürgen. Jenseits des kleinen Sees wurde der Hirsch, wie von einer unsichtbaren Faust getroffen, zu Boden geschleudert, schlug noch ein paarmal mit seinen Läufen und blieb dann starr liegen.
    »Bei Gott, was haben Sie getan?«, rief Jürgen tonlos.
    Nathalia legte die Büchse auf den Boden und schüttelte sich. Dann aber fauchte sie den jungen Mann an. »Ich habe nur das getan, was Sie hätten tun sollen, aber nicht fertiggebracht haben! Graf Nehlen wollte, dass Sie den kranken Hirschbullen schießen. Wäre er Ihnen entkommen, hätten Ihre Vettern Sie vor allen Leuten unmöglich gemacht und Ihr Großonkel wahrscheinlich auch noch die letzte Achtung vor Ihnen verloren!«
    »Ich … aber …, es tut mir leid, ich wollte Sie nicht kränken, Komtess. Es ist eher … Ich schäme mich, weil ich es nicht fertiggebracht habe, so dass Sie …«
    »… völlig unweiblich das arme Tier umgebracht haben, wollten Sie sagen?«
    Jürgen riss erschrocken die Arme hoch. »Um Gottes willen, nein! Ich fühle mich nur beschämt, weil Sie das getan haben, was eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre, und ich wieder einmal versagt habe.«
    »Wenn Sie sich wirklich für einen Versager halten, dann springen Sie am besten gleich in diesen See und ertränken sich! Sind Sie jedoch der Mann, für den ich Sie

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