Juliregen
halte, werden Sie Ihr Pferd holen und den Hirsch aufladen. Dabei helfe ich Ihnen, und dann können Sie mit der Jagdbeute nach Nehlen zurückkehren. Ich folge Ihnen im Abstand von einigen Minuten. So wird niemand annehmen können, wir hätten uns hier getroffen. Für Ihren Großonkel und alle anderen muss es so aussehen, als hätten Sie den Hirsch geschossen!« Nathalias Tonfall wurde scharf, weil sie wollte, dass Jürgen sich endlich zusammenriss.
Er sah sie kopfschüttelnd an und begann kläglich zu lachen. »In Ihren Augen muss ich der letzte Schwächling sein. So einen Schuss wie Sie hätte ich niemals hinbekommen.«
»Sind Sie das Schießen gewohnt?«, fragte Nathalia.
Jürgen schüttelte den Kopf. »Nein! Ich habe nur ein-, zweimal auf Scheiben geschossen, und das mit kleinen Kalibern. So schwere Büchsen wie diese habe ich mir nur gelegentlich angesehen, weil es für einen Orientforscher unabdingbar ist, bewaffnet zu reisen.«
»Wenn Sie zu den Beduinen in die Wüste reisen wollen, müssen Sie in der Lage sein, den Löwen im Sprung zu treffen. Sie sollten daher so viel wie möglich üben.«
Langsam ging es Nathalia wieder besser. Das Gefühl, ein lebendes Wesen getötet zu haben, brannte zwar noch immer in ihr, aber sie glaubte, richtig gehandelt zu haben. Der Hirsch war krank gewesen und wäre über kurz oder lang elendig eingegangen. Vorher aber hätte er noch andere Tiere anstecken können. Diese Gefahr hatte sie beseitigt.
Jürgen begriff, dass gekränkter Mannesstolz fehl am Platz war, und konnte wieder lächeln. »Wo haben Sie so gut schießen gelernt?«
Nathalia atmete tief durch und sah zu dem Hirsch hinüber, konnte ihn aber in der rasch zunehmenden Dunkelheit kaum noch ausmachen. »Wir sollten das Tier aufladen, sonst wird es zu dunkel, es zu finden. Aber zu Ihrer Frage: Der gute Volkmar Zeeb war letztes Jahr der Ansicht, dass ich als Gutsherrin die Grundzüge des Waidwerks kennenlernen sollte, und hat mir während der Ferien einiges beigebracht. Dabei habe ich auch mehrmals mit einer solchen Jagdflinte geschossen, allerdings nur auf Scheiben. Ich hätte nie gedacht, dass ich so ein Ding jemals auf ein Lebewesen anlegen müsste.«
Jürgen atmete auf. Also fiel es auch der Komtess nicht leicht, auf ein Tier zu schießen. Er holte nun sein Pferd und führte es um den See herum. Nathalia hob die Büchse auf und folgte ihm.
Der Hirsch wirkte zwar halb verhungert, war aber trotzdem groß und schwer. Daher war Jürgen froh, ihn mit Nathalias Hilfe aufs Pferd wuchten zu können. Das war nicht so leicht, denn der Wallach roch das Blut und wollte nicht stillhalten.
Nathalia versuchte, das Pferd zu beruhigen, und übergab, als es ihr endlich gelungen war, Jürgen die Zügel. Dann wies sie in die Richtung, in der Nehlen lag. »Glauben Sie, dass Sie von nun an allein zurechtkommen?«
»Wenn ich es jetzt nicht tue, bin ich noch jämmerlicher, als Sie jetzt schon von mir denken.« Jürgen atmete tief durch, fasste die Zügel und wollte losgehen, als ihm noch etwas einfiel. »Wo haben Sie Ihre Stute? Ich werde Ihnen in den Sattel helfen!«
Nathalia schüttelte den Kopf, obwohl er diese Geste in der Dunkelheit kaum noch erkennen konnte. »Das ist nicht nötig. Kümmern Sie sich um Ihr Pferd. Ich komme allein zurecht!«
So ganz schien Jürgen ihr nicht zu glauben, denn er folgte ihr und wartete, bis sie ihre Stute erreicht hatte. Sie stellte den Fuß in den Steigbügel und stieß sich mit einem kräftigen Ruck vom Boden ab. Zwar kam sie in den Sattel, bemerkte dann aber, dass sie in der Anspannung vergessen hatte, die Zügel an sich zu nehmen. »Jetzt brauche ich doch Ihre Hilfe, Herr Göde. Könnten Sie so gut sein, den Zügel vom Ast zu lösen und mir zu reichen. Sonst müsste ich noch einmal absteigen.«
»Aber selbstverständlich, Komtess!« Mit einer Hand den eigenen Gaul haltend, knüpfte Jürgen mit der anderen den Knoten auf und reichte Nathalia den Lederriemen.
»Wäre es nicht besser, Sie begleiten mich zum Gut? Wir könnten ja sagen, wir hätten uns kurz vor Nehlen getroffen.«
Nathalia wollte schon ablehnen, sagte sich dann aber, dass es gewiss angenehmer war, wenn vier Augen in der Dunkelheit auf den Weg achteten. »Also gut, Herr Göde. Machen wir es so! Wenn man uns fragt, so habe ich wenige hundert Schritte vor dem Herrenhaus zu Ihnen aufgeschlossen.«
Das waren für längere Zeit die letzten Worte, die zwischen ihnen fielen. Um sich abzulenken, beschäftigte Nathalia sich mit Lores
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