Juliregen
entsprungen sein musste, auf ihre Großnichte wie ein Gespenst.
Philomena hatte die Hausherrin mehr als zehn Jahre lang nicht gesehen und wäre wohl auch nicht freiwillig gekommen, doch da gab es eine Sache, die ihrer Ansicht nach der Klärung bedurfte. Als ihr die Greisin die Hand entgegenstreckte, knickste sie und berührte die Finger mit den Lippen.
»Du kommst ungerufen!«, begrüßte die Verwandte sie mit brüchiger Stimme, welche verriet, wie wenig sie es schätzte, gestört zu werden.
»Verzeiht, Frau Tante, aber da gibt es etwas Wichtiges zu besprechen«, antwortete Philomena ungehalten.
»Du meinst deine bevorstehende Heirat mit Gerhard? Ich war der Ansicht, das hätte noch ein wenig Zeit. Doch wenn es dir so eilig ist, unter die Haube zu kommen, werde ich die Angelegenheit beschleunigen.«
»Ich denke nicht daran, diesen Mann zu heiraten!«, rief Philomena mit Nachdruck. »Gerhard Klampt ist ein Kerl ohne jede Moral, der sich in zweifelhaften Häusern herumtreibt, über die Maßen trinkt und Glücksspielen frönt!«
»Das hast du mir bereits geschrieben, und ich habe mit Gerhard gesprochen. Er ist bereit, sein altes Leben aufzugeben und dir der Gatte zu sein, den du dir wünschst!« Friederike Fabarius hob beschwichtigend die Rechte und erwartete, Philomena würde sich nun ihrem Willen fügen.
So einfach gab ihre Großnichte jedoch nicht auf. »Ich denke nicht daran, mich an ein solches Subjekt zu binden! Gerhard ist der Liebe einer einfühlsamen Frau wie mich nicht wert. Er ist, um es offen zu sagen, ein Lump. Ich habe Bekannte in Berlin, die mir einiges über ihn berichtet haben. Er verkehrt als Stammgast in einem Haus, dessen Name eine wohlerzogene Dame nicht einmal in den Mund nehmen darf.«
»Er ist ein Mann, und als solcher hat er nun einmal leibliche Bedürfnisse. Darum ist der Ehestand auch so segensreich für die Männer, denn sie können diese Gelüste gottgefällig im Ehebett stillen und sind gegen Anfechtungen der Moral gefeit. Dir wird es mit Gerhard nicht anders ergehen.«
Philomena begriff, dass es ihrer Tante mit dieser Ehe ernst war, und schluckte einige wütende Bemerkungen, die ihr über die Lippen wollten. Stattdessen fasste sie die Hände der alten Frau und kniete vor ihr nieder.
»Ersparen Sie mir die Ehe mit diesem Mann! Sie kann nur unglücklich enden.«
»Unsinn!«, erklärte Friederike Fabarius scharf. »Du bist genau die Stütze, die Gerhard braucht. Wohl ist sein Charakter ein wenig labil, doch das ist bei dieser Mutter kein Wunder. Du wirst ihn mit sanfter, aber fester Hand leiten, auf dass er in Zukunft ein Gott wohlgefälliges Leben führt. Ich habe in meinem Testament bereits bestimmt, dass du das Vermögen, das ich euch einmal vermachen werde, verwalten sollst. Du wirst Gerhard als deinem Ehemann eine gewisse Summe als Taschengeld aushändigen. Er mag sich dafür am Sonntag eine Zigarre und einen Krug Bier im Gasthaus kaufen. Bordellbesuche und dergleichen sind für ihn tabu!«
Philomenas Miene entspannte sich bei diesen Worten, und sie lächelte zum Schluss sogar. »Wenn es Ihr Herzenswunsch ist, werde ich ihn Ihnen selbstverständlich erfüllen, liebste Tante.«
Innerlich atmete sie auf, denn das Schlimmste, das sie sich hatte vorstellen können, würde nicht eintreten. Hätte Gerhard Klampt über das Vermögen ihrer Großtante frei verfügen können, wäre sie zu einem elenden Leben an der Seite eines Wüstlings verurteilt worden. Zwar verachtete sie den Mann, den sie auf Wunsch ihrer Tante heiraten sollte, doch wenn sie die Macht über das Geld besaß, dann hatte sie auch die Macht über ihn.
»Ich sehe, du bist eine kluge Frau«, sagte Friederike Fabarius mit einem kaum merklichen Lachen. »Ich kenne Gerhard, und wenn ich ihm als Mann auch zugestehe, sich vor der Hochzeit die Hörner abzustoßen, so darf ihm dies nach der Trauung nicht mehr gestattet werden. Doch nun geh und suche deinen Verlobten und dessen Familie auf. Ich will ruhen. Das hätte ich schon längst getan, wärst du nicht gekommen.«
Leicht würde das Zusammenleben mit der alten Dame nicht werden, das war Philomena durchaus klar. Doch sie hatte bereits zu lange auf das Erbe warten müssen, um jetzt noch darauf verzichten zu können. In weniger als einem Jahr würde sie die vierzig überschreiten und dann vollends als alte Jungfer gelten. Da die Dame, der sie bisher als Gesellschafterin gedient hatte, aus Altersgründen in ein Sanatorium eingeliefert worden war und deren Verwandte ihr
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