Juliregen
Augenmerk auf Pferd und Wagen richten musste.
Lore wollte sich umdrehen, wurde aber durch das Gewehr behindert.
»Wirf das dumme Ding ins Gebüsch! Bis der Kerl es findet, sind wir in Sicherheit«, rief Nathalia ihr zu.
Lore schleuderte die Büchse in eine ungemähte Wiese. Als sie nach Jürgen Ausschau hielt, hing dieser zwar wie ein Sack auf seinem Pferd, hatte es aber in der Gewalt und holte bereits auf.
»Festhalten!«, schrie Nathalia und lenkte das Gespann in voller Fahrt auf die Landstraße. Ihr Warnruf kam im letzten Augenblick, denn Lore konnte gerade noch verhindern, aus dem Wagen geschleudert zu werden. Sie sagte aber nichts, sondern atmete auf, als Gut Klingenfeld weit hinter ihnen zurückgeblieben war.
»Der Kerl hätte uns wahrhaftig erschossen«, sagte sie empört.
Nathalia nickte mit verkniffener Miene. »Hätte er eine Handspanne weiter links gezielt, bräuchte ich mir keinen Gedanken mehr über meinen zukünftigen Ehemann machen. So ein Kerl gehört eingesperrt und sollte nach Möglichkeit nicht mehr freigelassen werden. Aber wie geht es Jürgen … ich meine Herrn Göde?«
»Dem fehlt nichts – außer einem wundgerittenen Hinterteil, wie ich annehme«, antwortete Drewes an Lores Stelle. Der Kutscher hatte sich krampfhaft am Wagen festgehalten, um nicht herabzufallen.
Da die Gefahr nun gebannt schien, zügelte Nathalia den Wallach, hielt schließlich an und sprang vom Wagen. »Es tut mir leid, dass ich dich schlagen musste, mein Guter. Aber ich wollte nicht, dass dieser Schurke noch mal auf uns schießen kann. Immerhin war die Gefahr für dich noch größer als für uns, denn wir sind um einiges schwerer zu treffen.« Mit diesen Worten streichelte sie den Hals des Rappen. Dieser drehte zuerst den Kopf weg, sah sie dann aber doch an und prustete ihr ins Gesicht.
»Dafür bekommst du heute Abend doppelten Hafer, und ich bringe dir eigenhändig deinen Nachtisch in Form einiger besonders knackiger Möhren«, versprach Nathalia ihm und sah dann Jürgen entgegen, der mit schmerzlich verzogener Miene sein Pferd neben ihr zügelte. »Lieber Herr Göde, ich danke Ihnen! Sie sind doch nicht so ganz der Bücherwurm, für den alle Sie halten«, sagte sie mit einem herzlichen Lächeln.
Dann stieg sie auf den Wagen und bat Lore, das nächste Stück zu kutschieren, denn plötzlich zitterten ihr die Knie.
XV.
A ls sie nach Nehlen zurückkamen, war der erste Schreck überwunden, und sie vermochten sogar ein wenig über ihr Abenteuer zu spotten.
Kopfschüttelnd lauschte der alte Herr ihrem Bericht. »Wenn ich gewusst hätte, dass der Kerl gemeingefährlich geworden ist, hätte ich euch niemals erlaubt, dorthin zu fahren.«
»Es ist ja glücklicherweise nichts passiert, nachdem Herr Göde so kaltblütig war, diesem elenden Menschen das Gewehr abzunehmen, und wir den Rückzug antreten konnten«, antwortete Nathalia und schenkte Jürgen einen Blick, in dem tiefe Verwunderung über die unerwarteten Facetten lag, die sie an ihm entdeckt hatte.
»Bitte, Komtess, das war doch nicht der Rede wert«, wehrte der junge Mann ab.
»Nun stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Großneffe! Deine Vettern tun das nämlich auch nicht. Aber die führen lieber Fräulein von Philippstein in die Konditorei, als zur Stelle zu sein, wenn sie gebraucht werden. Sei’s drum! Wir setzen uns jetzt in die Stube und essen etwas. Ein kräftiger Imbiss stärkt die Nerven, und die Damen sehen so aus, als hätten sie das nötig.« Graf Nehlen befahl einem Knecht, das Gig auszuspannen, dem Wallach ein ordentliches Maß Hafer zuzumessen und Drewes in die Küche zu bringen, damit auch der Kutscher einen Krug Bier und etwas zu essen bekam. Dann führte er Lore und Nathalia ins Haus.
Jürgen folgte ihnen mit zusammengebissenen Zähnen, um nicht vor Schmerz zu schreien, denn die Innenseite seiner Oberschenkel und sein Hinterteil brannten nun wie Feuer. Als er sich seinem Großonkel gegenübersetzte, stöhnte er einen Augenblick auf, konnte sich dann aber beherrschen und trank das Bier, das der Graf auf den Tisch stellen ließ. Auch aß er ein Stück Schinken mit gutem Appetit.
Während des Essens herrschte Schweigen, doch danach machten Lore und Nathalia ihrem Unmut über den Verwalter von Klingenfeld Luft. Der Graf erklärte, er werde ihre Klagen an die zuständigen Polizeibehörden in Hoya weiterleiten. »Ein weiteres Verbleiben dieses Mannes auf Klingenfeld ist nicht zu verantworten. Er schießt sonst tatsächlich noch jemand
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