Jung, blond, tot: Roman
wimmerte er nur noch. Und wie so oft urinierte er in die Hose; ein Reflex, er konnte das Wasser nicht zurückhalten. Stöhnen, dazwischen abgehackte, spitze Schreie aus dem Zimmer. Ein paarmal glaubte er, Schläge zu hören, Mutters Aufschreien, ungehaltene, scharfe Worte des bösen Mannes.
Mutter weinte. Er haßte dieses Schwein da draußen, das seiner Mutter weh tat. Und er haßte seine Mutter, daß sie dieses Schwein immer wieder ins Haus ließ. Ihn und all die anderen. Sein kleiner Verstand begriff noch nicht, was sie da draußen trieben, aber es konnte nicht gut sein, wenn Mutter so oft weinte. Bestimmt hatte sie Schmerzen, bestimmt tat man ihr weh, warum sonst sollte sie schreien. Wie immer hielt er sich die Ohren zu, um es nicht hören zu müssen. Er verstand nicht, warum sie ihn andauernd in dieses finstere Zimmer sperrte. Er verstand nicht, warum sie sagte, daß sie ihn liebte, und ihm dann so etwas antat. Und wie so oft fiel sein erschöpfter Körper zur Seite, und erlösender Schlaf hüllte ihn ein. Sein Gesicht war tränenverschmiert. Nein, er verstand diese Welt nicht, er war ja auch gerade erst fünf Jahre alt.
Donnerstag, 16. September, 19.45 Uhr
Berger besuchte den Friedhof zweimal in der Woche. Mindestens. Wenn es seine Zeit erlaubte, auch öfters. Seit zwei Jahren kam er, stellte jedesmal einen großen Strauß frischer Blumen in die grüne Plastikvase, alle drei Monate setzte er ein paar neue Pflanzen auf das Doppelgrab. Heute hatte er Freesien gekauft, und er kam, obwohl es regnete und die Dämmerung bereits hereingebrochen war. Er mußte sich beeilen, in einer Viertelstunde wurde das Tor geschlossen.
Mit langsamen Schritten bewegte er sich über den weichen, dunkelerdigen Boden, den Blick geradeaus gerichtet, eine Hand in der Manteltasche. Kühler, böiger Nordwestwind peitschte den Regen gegen Bergers Mantel. Eine alte, schwarzgekleidete Frau mit krummem Rücken und Wollstrümpfen an den rachitischen Beinen kam ihm entgegen, schaute kurz zu ihm auf, tauchte gleich darauf wie ein Schemen in die anbrechende Dunkelheit ein. Er paßte nicht auf, trat in eine Pfütze. Die Bäume verloren ihre ersten Blätter, die Natur legte sich zum Ausklang des Sommers ein buntes Kleid an, der Herbst war nur noch Tage entfernt. Nach einem zeitweise unerträglich langen, heißen, schwülen Sommer gab es kaum jemanden, der sich nicht nach kühleren Tagen und Nächten sehnte. Wenn man dem Wetterbericht glauben konnte, sollte diese Abkühlung schon am Wochenende kommen, aber Berger traute den Prognosen nicht, zu oft in den letzten Tagen und Wochen waren sie falsch gewesen. Bestimmt war auch dieser Regen wieder nur eine schnell vorübergehende Episode.
Das Grab befand sich fast am anderen Ende des Friedhofs. Als er dort war, blieb er beinahe regungslos davor stehen, die Hände vor dem Bauch verschränkt, kniff für einen Moment die Lippen zusammen, nahm den noch nicht einmal verwelkten Strauß, den er erst am Sonntag gebracht hatte, aus der Vase, um den frischen hineinzustellen. Mit der kleinen Harke, die er hinter dem Grabstein hervorholte, begradigte er ein paar kaum sichtbare Unebenheiten im Boden, beobachtet von einem neugierigen Rotschwänzchen, das ruhelos, den Kopf keck geneigt, um die Grabumrandung hüpfte, er legte die Harke wieder zurück, kehrte um, warf die alten Blumen in den dafür vorgesehenen Kompostbehälter und machte sich, müde und erschöpft von einem langen Tag, auf den Weg zum Auto. Der Regen hatte in den letzten Minuten nachgelassen. Auf den Straßen drängten viele Menschen nach Hause. Er stieg in seinen Wagen, drehte den Zündschlüssel und fuhr los. Andrea, ob sie zu Hause war? In letzter Zeit hielt sie sich immer häufiger bei ihrer Freundin auf, beide siebzehn, beide voller Tatendrang. Manchmal überfiel ihn ein Gefühl beklemmender Melancholie, wenn er nach Hause kam und niemand da war, der ihn begrüßte, wenn das Alleinsein in dem großen Haus ihn erdrückte, Wände ihn kalt anstarrten, keiner außer dem Fernseher mit ihm sprach. Ein weiterer in einer Reihe anstrengender Tage lag hinter ihm. Spurensuche. Hoffnungslosigkeit. Zwei Mädchen, eines davon bis zur Tat noch unberührt, innerhalb von zwei Wochen bestialisch ermordet. Nein, nicht ermordet, abge schlachtet. Und kein Hinweis auf den Täter, kein Zeuge. Kein abgerissener Knopf, kein Medaillon, das vom Täter stammen könnte. Nur ein paar bis jetzt nichtssagende Fasern, Sperma, eine winzige Spur Fremdblut und die daraus bestimmte
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