Jung genug zu sterben
nicht. Er suchte sie in der Wohnung und schaute aus dem Fenster in den schmalen Gartenstreifen. Er rief in der Probebühne nach ihr und sprach ihren Namen in das Mikrofon am Inspizientenpult. Keine Reaktion.
»Pia, verdrück dich gefälligst nicht, wenn ich dich brauche!« Er rief durch die Gänge hinter der Bühne. Dann fluchte er über das Parkett, fand eine Reihe neuer Schimpfwörter.
Es tat gut, sich im weiten Raum des Theaters auszutoben. Wenn sie nicht da war, schadete es nicht, ihr alle Schuld an den Kopf zu werfen.
Der Caller saß auf der Arbeitsbrücke und formte seinen Pferdeschwanz. »Jenissej –«, warf er behutsam ein.
Der fuhr herum. »Gerd, hast du mich erschreckt, Mann! – Wo steckt
Pia desideria?«
»
Tut mir leid. Ich habe Pia nicht gesehen. Kann ich dir helfen?«
»Was machst du da oben?«
»Ich wollte die Paletten wegräumen. Die Maler haben wieder einige Töpfe nicht verschlossen.«
»Von da oben aus willst du sie wegräumen? Oder hast du dich vor mir in Sicherheit gebracht? – Zu recht, durchaus zu recht! – Pass auf, du kannst mir helfen, eine Reise in die Schweiz zu buchen.«
»Okay, wann willst du fahren?«
»Jetzt.«
»Und wohin in die Schweiz?«
»Wenn ich das wüsste! Los, komm runter da. Finden wir einen Ort namens Alp Grüm und wie man da hinkommt?«
»Warum nicht?«
49
Die anderen hatten sich um den langen Tisch herum platziert. Christine saß in der Mitte der Längsseite, von der sie ohne Mühe zur Kaffeemaschine hinter sich greifen konnte. Sie hatte sich eine blaue Stola gegen die Zugluft umgelegt und reichte den Kids den Korb mit den Brötchen.
Melina hatte Milch über ihre Haferflocken gegossen. Dann hatte sie eine Entschuldigung gemurmelt. Sie habe ihre Tabletten vergessen. Es schien niemanden zu interessieren.
Sie dachte an die schwarze Zeichnung. Die drei Jugendlichen – Schippi, Tina, Nathan –, eingewoben in die Kabel des Instituts.
Sie war in das Schlafzimmer der Mädchen gegangen. Die Mädchen hatten ihre Betten noch nicht gemacht. Ein Vorhang wehte am Flügelfenster, die anderen Fenster waren geschlossen. Melina lüftete und schlug Betten auf.
Von unten kam der Lärm des Frühstücks.
Beim Schütteln einer Überdecke sah sie sich nach einer schwarzen Reisetasche um. Pia hatte ihr in Berlin das Pendant dazu gezeigt. Sie sah neben und unter die Betten, suchte auf den Schränken und vorsichtig hinter allen Türen.
Vielleicht finde ich etwas anderes. Etwas, mit dem ich nicht rechne. Was ist, wenn sie mit einem der Mädchen in SM S-Kontakt steht?
Sie sah sich nach Handys um. Davon gab es mehr als eines. Ein perlmuttfarbenes auf dem Kopfkissen. Ein metallicrotes neben einer giftgrünen Zahnspangendose. Einschwarzes mit einem Ring Leuchtdioden, auf dem mehrere Ringe aufgeschichtet waren.
Das Traumbild von Lenas Leiche in der Geröll-Landschaft war wieder da. Melina griff nach dem Perlmutthandy, legte es aber neben das Kopfkissen zurück und schüttelte das Kopfkissen auf.
Die werden alle mit PIN gesperrt sein.
»Kann ich helfen?«
Melina fuhr herum.
Pia.
»Was … Hallo. – Ich bin dabei, die Betten zu machen.«
Pia kniff die Augen zusammen, übertrieben, theatralisch. »Das ist meine Aufgabe. Ich bin Pia, die Abwartsfrau vom Eigentümer der Hütte.«
»Abwarts- …?«
»Hauswartin.«
Melina warf das Kissen aufs Bett. »Irgendwie … Begreife ich das nicht. Was ist mit Lena?«
Pia zuckte mit den Schultern. »Wüsste ich auch gern«, flüsterte sie. »Du weißt also auch nichts Neues? – Das war keine gute Idee, dich einfach allein herreisen zu lassen, Melina. Ist mir zu spät eingefallen. Wenn sich jemand um Lena kümmern muss, dann Jenissej und ich. Er hat seine Sachen zu machen, und vielleicht kann er die Filme deuten. Wenigstens ich musste herkommen. Wie gesagt: Es war falsch, dich fahren zu lassen. Hast du Geld für die Rückreise?«
Jemand kam die Stiege hinauf. Dem schweren Knarren und Knirschen zufolge musste es Christine sein.
Melina wandte sich um, schloss das Fenster in ihrer Reichweite und sortierte den Vorhang.
»Kannst du sie nicht finden?«, fragte Christine.
»Was denn?«
»Die Tabletten. Wolltest du nicht deine Tabletten holen? – Oh, grüezi Pia!«
Die beiden begrüßten sich mit Wangenküsschen.
Die kennen sich schon länger!
Pia redete im Dialekt. Sie sprach von dem Camion, der das Heizöl gebracht habe, und davon, dass es manchmal günstiger sei, sich das Öl über die Fernstraße liefern zu lassen
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