Jung genug zu sterben
zweigeteilten Gehirn? Lascheters Mutter lebte gar nicht mehr. Andere scheinen es ohne schwerwiegende Nebenwirkungen auszuhalten.
Melchmer hatte sich noch nie darüber Gedanken gemacht, dass das Gehirn als eine Ansammlung von Nervenzellen keinen Schmerz registriert, wenn an ihm geschnitten wird. Wenn er sich an seine Migränen erinnerte, hätte er glatt das Gegenteil behauptet.
Er las, dass sich die meisten Split-Brain-Menschen nach dem Eingriff relativ normal verhielten. Allerdings wusste dann tatsächlich die eine Seite nicht mehr, was die andere Seite tat. Im Internet gab es Videos, die zeigten, dass die Testpersonen Gegenstände oder Zeichnungen sowohl in ihrem linken als auch im rechten Gesichtsfeld erkennenkonnten. Nur konnten sie nach getrennten Wahrnehmungen keine Verbindung herstellen.
Melchmer versuchte es mit Zusammenfassungen und Rezensionen zu Lascheters Habilitationsschrift. Er stoppelte eine Interpretation zusammen: Da die getrennten Hirnhälften widersprüchliche Gesamtbilder produzieren, beginnt das Gehirn – vor allem die linke Hälfte –, sich Erklärungen auszudenken! Sagt man einem Patienten, er solle zeigen, wie ihm ein Hut steht, reagiert die Hirnhälfte, die für das Sprachzentrum verantwortlich ist, während die andere den Aufruf nicht kapiert. Der Mann setzt sich den Hut auf. Stellt man nun der anderen Hälfte die Frage, warum er einen Hut trägt, sagt er: Weil ich einen Spaziergang machen will … Diese Erklärung hat sich sein Gehirn ausgedacht, um eine logische Erklärung für den Hut auf dem Kopf zu finden.
Melchmer las, dass auch ein intaktes Gehirn automatisch und täglich kreativ ist: Das Organ versucht selbständig, Lücken logisch zu schließen. Besonders in Träumen. Die unwillkürlichen Bilder im Schlaf werden vom Gehirn in eine irgendwie noch vertretbare Ordnung gebracht. Was zu
surrealistischen
Erklärungen führen kann. Die linke Hirnhälfte ist dabei die treibende Kraft. Träume sind nicht immer logisch, aber sehr oft wollen sie eine Geschichte erzählen, meist mit einem doch irgendwie nachvollziehbaren Kern. Und verantwortlich dafür ist das Gehirn, da es Lücken füllen will.
Lascheter untersuchte laut der verfügbaren Information die Träume der Split-Brain-Patienten – sein Buch war in mehr als dreißig Sprachen erschienen.
Ein Link führte Melchmer zu einem journalistischen Text. Die Autorin legte dar, dass das Gehirn
ständig
dabei sei, Lücken zu schließen, indem es Plausibilität konstruiert.Die menschlichen Sinne, besonders die Augen, seien viel zu langsam und hätten »Aussetzer«. Im Grunde müssten alle Menschen ständig Bildstörungen haben. Die Welt vor ihren Augen würde immer wieder stocken und wie bei einem Computer für Augenblicke »einfrieren«. Erst das Gehirn sorge für den geschmeidigen Bildanschluss und für die Illusion, wir würden unsere Umwelt ungefiltert in einem Fluss wahrnehmen.
Es erfindet einfach die fehlenden Bilder.
Melchmer öffnete das Fenster in die schwarze Nacht.
Bei keinem meiner Fälle habe ich je an so eine Möglichkeit gedacht. Was, wenn ein mutmaßlicher Täter in den entscheidenden Sekunden einer Tat einen Aussetzer seiner Sinne hatte? Und wenn das Gehirn eingesprungen ist, um die Handlung logisch zu ergänzen. Und nun dachte der Mensch, er habe das Opfer wirklich getötet. Er gesteht einen Mord, von dem nur sein Gehirn
glaubt,
dass er ihn begangen hat.
Ist es die Nacht, oder ist es die Absurdität der Natur? Und wie weit kann ich meinem Gehirn trauen? Jetzt zum Beispiel. Hallo, Hirn! Hallo, Lothar.
Vielleicht kommt daher die Intuition. Wir denken gar nicht immer aktiv logisch. Wir legen Puzzleteile einer Logik gemäß zurecht, und dann macht das Gehirn den Rest. Das Gehirn, das nachts besonders kreativ ist, weil das Vernunftzentrum dann abschaltet.
Mein Gott, wenn ich das im Büro erzähle, werde ich zwangspensioniert.
Als Professor wird Lascheter Chefarzt in Zaïre und Burundi, 1990 wechselt er als Neurochirurg an die Berliner Charité. 1992 geht er für fünf Jahre an das Institut von Professor
Zucker, das damals noch bei St. Gallen residiert. 1996 (mit
43) schwenkt er zur Pharmaindustrie. 1998 beschäftigt sich
die ärztliche Ethikkommission mit seinem Handeln in Zaïre.
Der Vorwurf: unethische Experimente an Menschen. Er hat
viele Verteidiger.
Im Jahr 2000 kehrt er zurück zu Zucker und wird im neuen
Institut in Berlin-Gatow Direktor der Abteilung »Bildgebende
Verfahren«. Es folgt eine zweite
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