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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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noch Buchstubensuppe gelöffelt.«
    Fogh lachte und sah sie zärtlich an. »Das hat wahrscheinlich auf die Dauer wehgetan.«
    »Irgendwie habe ich die ersten drei Semester gar nicht darüber nachgedacht. Vor mir war der Weg. Alle erwarteten, dass ich ihm folge. Ich auch. Das war nicht zu hinterfragen. Immer geradeaus. – Dann hatte mein Vater ein ernstes Vater-Tochter-Gespräch. Ich sollte mich auf Kinderheilkunde spezialisieren, meinte er. Da merkte ich, dass für ihn wie in Stein gemeißelt feststand: Melina übernimmt meine Klinik. Wir hatten nie zuvor darüber gesprochen. Von dem Moment an fühlte ich mich eingeengt. Offenbar hatte ich nie darüber nachgedacht, wie ich trotz meiner Eltern eine eigene Richtung einschlagen konnte.«
    »Und deshalb hast du Medizin gleich abgebrochen?«
    »Nein, ich habe noch das vierte Semester durchgezogen. Mit Widerspruch und Brüchen hatte ich keine Erfahrung. Ich hab immer den Eindruck, dass ich keine eigene Pubertät durchlebt hatte – im Sinne von: Konflikt mit den Eltern, Streit, Distanz, Abnabelung.«
    »Du arbeitest an einem Institut für Pubertätsforschung!«
    »
Zucker?
Ja, klar. Obwohl ich’s eher, im Sinne von Professor Zucker, als allgemeines Hirnforschungsinstitut verstehe«, sagte Melina. »Und Jugend als einen der Schwerpunkte.«
    Fogh verschluckte sich am Grauburgunder, hatte sich aber schnell wieder im Griff. »Warum ausgerechnet Latein?«, japste er.
    »Alles okay? – Ich erzähle das nicht gern. Die meisten Leute hören nur, was sie hören wollen. Sie stecken mich in die Schublade der Streberin. Dabei ging es mir nie um gute Noten oder um meinen Rang innerhalb einer Klasse. Manche rechnen gern mit Zahlen. Andere mögen Sport. Oder sie malen, spielen Cembalo oder fühlen sich hingezogen zur Literatur. Bei mir war es die lateinische Sprache. Ich habe die ersten Sätze gehört und gelesen und dachte, sie hat etwas – Magisches.«
    »Eine Zaubersprache?«
    »Hmmm   … Eine verzauberte Sprache.«
    »Aha.« Er lächelte verlegen.
    »Ich mochte die Vokabeln. Dass es keine richtigen Artikel gab, sondern dass man an jedes Wort eine Endung anhängt, um den Fall festzulegen, das war Spannung pur. Für mich hatte Latein etwas Klares, Frisches. Wie ein Frühlingsmorgen. – Oh. Ich monologisiere. Entschuldigung.«
    »Nein, nein. Ich wusste gar nicht, dass du das kannst: monologisieren. Du wirkst im Labor immer so still. Fast verschüchtert.«
    »Was? Ich?«
    Dieses dauernde Rotwerden. Besser kein Wort mehr sagen.
    Fogh sah sie herausfordernd an. »Als Medizinstudentin hattest du auch ständig mit Latein zu tun.«
    Sie rümpfte die Nase. »Das ist doch Baukastenlatein! Die Römer haben keine Medikamente gehabt, die
Dolorisam
oder so hießen! Das ist ein Pseudolatein, das sprachlich keinen Sinn ergibt. Das denken sich Leute in den Werbeabteilungenvon Pharmakonzernen aus, das hat mit eigentlichem Latein nichts zu tun.«
    »Verstehe. Und du wärst gern Lehrerin. Grundschule? Gymnasium? Uni?«
    Wenn die Geste nicht schon verbraucht gewesen wäre, hätte sie gern die Nase gerümpft. »Ich hab   … Es ist   … Na ja, also da ist sozusagen mein wunder Punkt.«
    »Weshalb?«
    »Ich   … habe noch nie vor einer Klasse gestanden. Und ich weiß auch nicht, ob ich es mir wünsche.«
    »Aber du hast im Institut immer wieder Jugendgruppen.«
    »Ja. Und ich hasse es. Ich mag es, mit einem Mädchen oder mit einem Jungen unter vier Augen zu sprechen. Das ist meine Form der Kommunikation, da fühle ich mich wohl. So wie ich Latein liebe und Englisch nicht. Spanisch schon gar nicht. Das ist so exaltiert.«
    Er grinste. »Du hast die Dinge gern unter Kontrolle, hm?«
    »Vielleicht. Jedenfalls: Das mit dem Probeunterricht muss ich demnächst angehen, sonst gibt es irgendwann ein Desaster.«
    Kauend stimmte er ihr zu. »Es ist kein Gerücht: Es gibt Medizinstudentinnen und -studenten , die erst in der Praxis kapieren, dass sie kein Blut sehen können. Habe ich selbst erlebt. Und so gibt es bestimmt auch Lehramtskandidaten, die keine Schüler aushalten.«
    »Ganz so schlimm ist es bei mir hoffentlich nicht.«
    »Ich finde, Melina, du machst das hervorragend.«
    »Hervorragend? Was denn?«
    »Na, alles! Du hast den Mut, dein Medizinstudium nach der Hälfte abzubrechen und komplett neu anzufangen. Respekt! Meine Alten waren auch Ärzte, und mir wäre das bis zur Approbation nicht eingefallen, ihnen zu widersprechen.Ich bewundere, wie du dich in Latein reinkniest. Und was du da für eine

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