Jung genug zu sterben
Ich machte ihnen Vorwürfe: Immer denkt ihr nur an Fußball! Oder Rockmusik. Oder Mädchen! Jetzt gibt es Stubenarrest, setzt euch auf den Hosenboden und lernt! Seid nicht so faul! – Kennen Sie das? – Aber warum wohl kennen so viele von uns das?«
Mehrere bunte Kurven leuchteten neben der ersten auf. Sie stiegen auf oder blieben wenigstens stabil waagerecht.
»Das Rote ist die durchschnittliche Leistungsfähigkeit derselben Jugendlichen, wenn Sie Leistungsfähigkeit als Kraftzunahme definieren. Erlauben Sie mir, es etwas flapsig zu sagen: Die Kids werden stärker und dümmer.«
Gelächter. Einzelne Salzsäulen.
»Die blaue Linie markiert die Zunahme dessen, was wir umgangssprachlich
Mut
nennen. Andere sagen kritisch: Mut ist eine besondere Form der Dummheit gegenüber dem eigenen Körper … «
Regung im Saal.
»Das Grüne symbolisiert die dramatische Zunahme an Selbstbewusstsein und an der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Sie können noch eine Reihe ähnlicher Eigenschaften hinzufügen, alle diese Kurven weisen steil nach oben, und das genau in der Pubertät! – Und trotzdem empfinden wir unseren Nachwuchs und unsere Schüler in dieser Zeit als lustlos, faul, unnütz, aufmüpfig und dumm. Weshalb?«
Kraniotakes neben ihm kraulte sich nervös den Bart.
»Der Grund ist einfach, meine Damen und Herren! Just in dem Moment, in dem alle anderen Leistungskurven nahezu explodieren, nach oben rasen, der Jugendliche erwachsen wird, konzentrieren sich die Schulen auf eine einzige, ganz andere Leistungskurve. Sie interessiert, ob ein Mensch in dieser Phase das Plusquamperfekt von
amare
konjugieren kann.«
Amüsement.
»Es ist ernst! Wir, die Pädagogen und Lehrer, auch wir Eltern, tragen Scheuklappen. Wir wollen keine der überragenden Leistungsentwicklungen der Jugendlichen sehen. Unwichtig, dass sie plötzlich einen zuvor fremden Menschen
lieben
können. Unwichtig, dass sie sich plötzlich für
Gedichte
interessieren. Unwichtig, dass sie plötzlich einen
Ball
mit der mehrfachen Energie kicken können! Wir schauen nur darauf, ob sie weiterhin Formeln und Jahreszahlen lernen können.«
»Und was wollen
Sie
?«, rief eine Frau.
»Das ist eine gute Frage. Und eine schlechte. Entschuldigung. Gut, weil wir wissen müssen, was
wir
wollen. Nicht so gut, weil wir das Interesse unserer Kinder vergessen! – Aber zuerst einmal muss ich Ihnen zeigen, weshalb diese erste Kurve so dramatisch abstürzt – auch wenn sie sich nach ein, zwei Jahren wieder einpegelt und sogar steigt, jedenfalls bei den meisten.« Bei dem letzten Halbsatz blickte er so gewollt zufällig zu dem Vollbart-Kollegen hinüber, dass man ein vereinzeltes »Ho-ho-ho!« hörte.
»Es ist nicht so, dass die Jugendlichen uns mit ihrer plötzlichen Unlust an der Schule ärgern wollen. Es macht zwar den meisten von ihnen auch Spaß, uns zu ärgern, aber das gehört zum Distanzprogramm der Pubertät. – Entscheidend ist, dass sie gar nicht anders
können
. Sie
müssen
schlechter werden.«
»Meine Tochter hat durchweg vernünftige Noten nach Hause gebracht«, rief der schon eingestimmte Zwischenrufer vom Anfang.
»Das mag sein. Es gibt eben immer Ausnahmen, Wunderkinder und Spätentwickler. Machen Sie sich keine Sorgen, das kommt bei ihrer Tochter noch.«
Lachen bis Johlen.
Anstelle der Kurven erschien der Querschnitt durch ein Gehirn. »Dies ist – schematisch – das Hirn einer Elfjährigen. Was Sie hier sehen, sind die berühmten grauen Zellen. Das Mädchen hat elf mühevolle Jahre damit zugebracht, sich diese graue Substanz anzueignen. Sie hat so viel gespielt, beobachtet, gelernt, empfunden und gegrübelt, dass das Gehirn immer komplexer geworden ist. Und viele haben ihr dabei geholfen, also Sie sehen, ich vergesse die Eltern nicht … Allerdings haben auch die Nerven ein bisschen was geleistet, sie haben sich vernetzt, Milliarden vonSynapsen sind entstanden – das gesamte Gehirnaufbauprogramm. – Die Natur hat sich nun aber etwas geradezu Grauenhaftes ausgedacht, vielleicht haben Sie von diesem Frevel schon einmal gehört: Mit einem Mal rücken Abrissunternehmen an. Hunderte, Zehntausende. Sie reißen viele der mühsam aufgebauten Leitungen, die für unser Wissen und unsere Gedanken verantwortlich sind, wieder ein! Stellen Sie sich vor, Sie hätten gerade Ihr Bad alleine gefliest. Und sobald der Fugenkitt getrocknet ist, kommt einer mit dem Presslufthammer reinspaziert – das ist nicht schön.«
Unisono Lachen.
»Die
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