Jung genug zu sterben
sich prächtig.
Jenissej knuffte Oskar Schroeter auf die Schulter und verschwand in Richtung Bühnentrakt.
»Ich find die Doku eigentlich gut, wie sie ist«, sagte Pia.
Schroeter nickte.
»Es tut mir leid für dich, Oskar. Mal will er es so, mal so. Launisch und ruppig ist er.«
Schroeter sah sie an. »He, das ist doch nur gespielt zwischen uns.«
»Ich weiß, wie ihr eure Aggressionen rauslasst. Aber dahinter ist mehr. Da steckt dein Herzblut drin, und er macht alles mit einer Bemerkung kaputt. Sicherlich, wahrscheinlich ist es besser, wenn man es so macht, wie er vorgeschlagen hat.«
»Das werden wir sehen.«
»Ja«, sagte Pia. »Und er ist der Boss.«
Oskar Schroeter nickte und löschte mit einem Knopfdruck die gesamte, einzige Kopie.
15
Jan Sikorskis Gehirn war nicht leichter und nicht schwerer als das jedes anderen Sechzehnjährigen, das Professor Eugen Lascheter in der Hand gewogen hatte. Die elektronische Wiegung brachte nur die Bestätigung dieses Eindrucks – und eine pseudowissenschaftliche Genauigkeit.
Beim Betasten war das schon anders. Zwar fühlte sich die Großhirnrinde vertraut an. Aber wenn Lascheter am vorderen Kortex drückte, gab die Struktur nach und sonderte ein flüssiges bis mehliges Sekret ab.
Die Färbung lag aus Lascheters Sicht im Normbereich, auch der Geruchstest wies nicht auf eine Anomalie hin. Blieb aber das Sekret, das der Gehirnmasse ähnelte.
Merkwürdig. Als ob sich das Hirn verflüssigt.
Er erinnerte sich an die Organe von Ebola-Patienten. Auch bei ihnen beschleunigte sich der Verfall in Form von Zersetzung hin zum Flüssigen.
Lascheter legte das Gehirn von Jan Sikorski an eine Art Brotschneidemaschine und schnitt es routiniert, in der üblichen Weise.
Verflucht. Das ist alles grau.
Er sah die Scheiben einzeln durch. An keiner Stelle gab es viel mehr weiße Hirnsubstanz als üblich, die Mischung mit der grauen Masse entsprach etwa derjenigen anderer Jugendlicher in Jans Alter.
Eine der Scheiben unterzog er einem weiteren Drucktest. Schon beim zweiten, stärkeren Fingerdruck brach die Hirnstruktur ein und war matschig wie ein überreifer Pfirsich.
Eine andere Scheibe war widerstandsfähiger, gab aber nach wie gesundes Gewebe.
Er nahm eine Probe der Flüssigkeit an der matschigen Stelle und legte sie unter das Mikroskop. Ach! Kristalline Strukturen. Das war die Ursache für den ersten Eindruck von Mehligkeit. Die Flüssigkeit zwischen den Kristallen war farblos.
So tritt Myelin sonst nicht auf.
Er ließ sich an mehreren hintereinandergeschalteten Bildschirmen noch einmal die Ergebnisse der Testreihe T44 anzeigen. Um sich die Effekte zu verdeutlichen, schaltete Lascheter auf eine Zeitrafferdarstellung.
Das Problem ist: Alle Probanden weisen nach drei Wochen eine höhere Myelinkonzentration auf. Dann gibt es lange Zeit nichts, pure Stagnation. Danach reagieren die Hirne unterschiedlich. Bei der einen Gruppe passiert nichts. Eine andere neigt zu epileptischen Anfällen. Bei der dritten Gruppe lassen frühere epileptische Anfälle sogar nach. Das heißt – stimmt das? Hm, das muss ich noch mal prüfen. Die Auflösung der Hirnmasse jedenfalls hatte ich noch bei keinem. Wie viele Injektionen hatte er? 23 insgesamt. Gut. Dann muss ich mir die anderen herausgreifen, die – sagen wir – mehr als fünfzehn bekommen haben. Wäre nicht schön, wenn bei denen die gleichen Symptome eintreten.
Er betrachtete noch einmal die glitschigen Hirnscheiben.
Das Umfeld hätte viel früher was merken müssen. Bei einem so großen Befall müssten die Aussetzer gravierend sein. Nicht nur ab und zu ein epileptoformer Anfall.
Er suchte auf dem Display Jugendliche mit den gleichen Grunddaten, wie Jan Sikorski sie bot.
Komplett unverständlich, dachte er. Bei dem war ich absolutsicher, dass er myelinisiert. Seine Werte hatten es bestätigt. – Oder gibt es ähnliche Umstände, in denen Myelin zur Verflüssigung neigt? So früh? Und in solcher Menge?
Er klickte sechs Jungennamen an, deren Daten stimmten. Allerdings litten sie nicht unter Epilepsie und hatten auch noch keine vergleichbaren Symptome gezeigt. Das machte es schwieriger, die Eltern zu überzeugen.
Wenn man Eltern überzeugt, alles zu tun, damit die schrecklichen Krampfanfälle nicht mehr eintreten, dann sind sie einfach dankbar. Sie murren nicht, auch wenn man ihre Kinder täglich impft oder bestrahlt oder punktiert. Alles ist dann gut. Sie sind ja Helden der Wissenschaft. Man darf es ihnen nur nicht sagen.
Noëlle
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