Jung genug zu sterben
Er sprach weiter, während man die Schauspieler abtreten sah. »Die Männer taten, als habe man sie getäuscht, sie verließen die Bühne. Wir ließen das Publikum fünf Minuten mit sich allein.«
Kameraschwenks und Nahaufnahmen von Zuschauern. Irritiert, lachend. Manche riefen sich etwas zu. Programmhefte wurden zu Papiertauben. Nach einer Weile kam Jenissej, per Sprechchören herbeizitiert.
Sein Gesicht in Nahaufnahme. Wenige, stoppelige Haare, tiefe Falten, als hätten ihn die 50 Jahre seines Lebens schon gegerbt. »Dieser Augenblick damals hatte etwas von Brecht:Die Zuschauer merken, dass sie Zuschauer sind und dass das Theater nur Theater ist. Das Problem an diesem tollen Gag war … «– er lächelte verschmitzt –» … wir konnten das nicht oft wiederholen. Die Geschichte sprach sich herum.«
Porträts von Brecht. Bekannte und unbekanntere. Im Off Jenissejs Stimme: »Die ersten Kritiker behaupteten, ich hätte mich an Lingens
Theophanes
vergangen. Aber zum einen hatte ich durch den Effekt des Doppelpublikums einige Lacher. Damit waren wir schon ein Stück auf Theo Lingen zugegangen. Zum anderen hatte ich mit dem Brecht-Effekt das Portal bereitet für alles, was ich im Folgenden über das Verhältnis zwischen Theo Lingen und Bert Brecht zu sagen hatte.«
Ein anderer Sprecher kommentierte Fotos, die Lingen mit anderen Theatergrößen zeigten. Mit Gründgens – weil sie beide in Fritz Langs
M – Eine Stadt sucht einen Mörder
spielten. Flashlights aus der Karriere, nicht chronologisch.
Aufnahmen von Jenissej bei der Theaterprobe. Wie er eine Gruppe jugendlicher Tänzer empfängt und ihnen eine Figur vorführt. Beim Erläutern einer Lichtinstallation mitten im Bühnenraum. Verbeugend vor applaudierendem Publikum. Eingeblendet sein Kommentar.
»Für manche ist Theo Lingen eine Knallcharge. Ein Komiker der Nazizeit. Für mich war er eine prägende Gestalt. In meiner Kindheit – bis heute.« Jenissejs amüsiertes Gesicht: »Meine Hochachtung wuchs, als ich hörte, dass Theo Lingen Ursula, die Tochter von Bert Brecht, großzog. Er heiratete Marianne Zoff, Brechts zweite Frau. – Sie haben also auf der einen Seite den großen Brecht. Der sich nicht um seine Tochter kümmert. Und auf der anderen Seite Theo Lingen, der die Tochter eines anderen aufnimmt. Und eine Halbjüdin heiratet, mit ihr durch die Nazizeit balanciert. Alsich das hörte, wuchs meine Bewunderung für Lingen ins Unermessliche.«
Dann kam die Story, in der Lingen bei der Gestapo intervenierte, um seine Schwiegermutter zu retten. »Er zahlte dafür: Um die Nazis milde zu stimmen, trat er aus der Kirche aus.« Dagegen hatte Oskar Schroeter Schlagzeilen aus den fünfziger Jahren geschnitten, die Theo Lingen vorwarfen, Mitläufer gewesen zu sein.
Jenissej stand neben ihnen. »Und wie hat Oskar das hingestümpert?«, fragte er.
Pia sah sich um und umschlang Jenissejs Beine. »Was ich bisher gesehen habe – großartig. Und du bist gut getroffen.«
Schroeter setzte den Film auf null und startete ihn erneut.
»Gefällt mir nicht«, sagte Jenissej, nachdem sie alles gesehen hatten. »Wir können nicht mein eigenes Stück in einer Doku über ihn zeigen.«
»Es hat aber etwas Labyrinthisches«, sagte Pia.
»Nein, es hat etwas Redundantes. Es stört mich. Und mich stört außerdem mein Gesicht. Du kannst ein bisschen was von mir im Off lassen, aber ich will nicht in meinem eigenen Film interviewt werden.«
»Warum hast du’s dann aufnehmen lassen?«, fragte Pia.
»Egal. Es passt nicht. Schneide es raus. Die Bilder sprechen für sich. Das mit Brecht wird im Verlauf klar genug.«
»Dann muss ich zehn Minuten rausnehmen«, sagte Oskar Schroeter trocken.«
»Tu das, du Idiot!«, sagte Jenissej leise.
»Du kannst mich mal«, schnarrte Schroeter.
»Der Typ sitzt die ganze Nacht dran und baut dabei nur Mist«, sagte Jenissej zu Pia und zeigte auf seinen Cutter.
»Ignorantes Schwein«, warf Schroeter ein.
»Unfähiger, nichtsnutziger Tagelöhner! Hat acht Stunden Material! Schnipselt alles Brauchbare raus und fügt genau den Müll ein, den jeder andere unterm Tisch liegen lässt!«
»Du bist einfach nur
traurig,
Jenissej!«
»Jedes Stück Schwarzfilm hat mehr Charakter als dein Rumgemurkse.«
»Sagt das größte Stück Schwarzfilm der westlichen Hemisphäre!«
»Du bist gefeuert.«
»Und du bist ein blasiertes … «
»Jungs –«, mahnte Pia.
Aber die Jungs klatschten sich in die Hände und grinsten. Sie verstanden
Weitere Kostenlose Bücher