Jung genug zu sterben
die geringste Ahnung.«
Das Sorbet war gut, aber es dauerte eine Ewigkeit, bis es gegessen war, obwohl es in einem so kleinen Napf mit einer Brombeere und einem hübschen Pfefferminzblatt serviert wurde. Auch alles andere dauerte lange und war ihr quälend bewusst, bis hin zum Bezahlen und zum Eingeladensein und zum Abschied.
Was hat er mit Lena zu tun?
17
»Die Unverschämtheit fängt schon damit an, dass Sie eine Veranstaltung wie diese auf einen frühen Vormittag legen! Die meisten Eltern sind schließlich
berufstätig
!«
Elke Bahr griff nach dem Mikrofon. »Ich darf das mal beantworten? Also, natürlich freuen wir uns, dass so viele Eltern gekommen sind. Einige von Ihnen unterstützen sehr aktiv unsere Forschung, allein dadurch, dass Sie Ihre Kinder zu uns schicken, um an der wissenschaftlichen Arbeit teilzunehmen. Andere engagieren sich direkt bei PALAU, unserem Kooperationspartner. Schon deshalb ist es uns wichtig, auch die Eltern unter Ihnen mit unserer heutigen Podiumsdiskussion anzusprechen. Allerdings sind die vier Herren auf dem Podium zu dem Zweck hergekommen, wissenschaftlich geprägt zu debattieren. Wir möchten uns also heute hauptsächlich an ein Fachpublikum wenden, und ich sehe auch eine Reihe mir wohlbekannter Gesichter: Pädagogen, Physiologen, Damen und Herren aus der Politik und den Medien. Ich sage noch einmal: Herzlich willkommen im Audimax des
Instituts Zucker
!«
»Und wir sind unwichtig!«, rief der Mann.
Allgemeines Murmeln, einige schauten sich zu ihm um. Nicken und Kopfschütteln.
»Keinesfalls ist jemand unwichtig. Seien Sie dabei, diskutieren Sie mit! Die Ergebnisse des heutigen Podiums stellen wir in einem allgemein verständlichen Text ins Internet. Außerdem laden wir in den nächsten Wochen zu einem Tag der offenen Tür ein und werden uns allen Fragen der allgemeinenÖffentlichkeit stellen, speziell natürlich denen der Eltern.«
Auf dem Podium beugte sich der zweite Mann von links, ein Vollbartträger, vor und sprach lächelnd in das Mikrofon. Auf dem Namensschild hieß er
Prof. Kraniotakes:
»Liebe Elke, danke schön. Wir sollten natürlich die Eltern auch nicht pauschal unterschätzen. Ich denke, die verstehen eine Menge.«
Händeklatschen hier und da, dann ein nicht überwältigender, aber deutlicher Beifall.
Elke Bahr winkte ihm freudig mit dem Handmikrofon zu.
Du Penner!
Als die Elternfreunde sich beruhigt hatten, sagte Elke Bahr: »Jetzt überlasse ich aber
wirklich
den Herren das Wort und übergebe an Herrn Professor Rachesch für den ersten Beitrag.«
Rachesch war ein Mann mit vollem weißen Haar und einer donnernden Stimme. Nach seinen Eingangsfloskeln sagte er: »Viele von Ihnen kennen meine Haltung nur als ein Surrogat, das in eine einzige Schlagzeile mündet:
Ein Jahr
schulfrei für alle Kinder!
Ich weiß, damit werde ich immer zitiert. Ich weiß, dass ich damit einerseits eine Popularität erlangt habe – die ich mir übrigens so gar nicht gewünscht habe. Und andererseits habe ich einen Hass auf mich gezogen – den ich mir übrigens auch nicht gewünscht hatte.«
Lacher.
» … Sie sollten wissen, dass ich niemals für
ein Jahr ohne
Schule
plädiert habe, wohl aber für
ein Jahr ohne den bislang
üblichen Unterricht
.«
Schon gingen die Meinungen im Audimax auseinander. Auch einige der Lokalpolitiker rutschten auf ihren Klappsitzen.
Mitten im Saal schien sich eine Grafik zu materialisieren. Eine animierte, aufsteigende Kurve.
»Sie sehen die durchschnittliche Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern seit der ersten Klasse. Mit Leistungsfähigkeit meine ich jene Möglichkeit, die heute schulisch an sie gestellten Aufgaben zu bewältigen. Sie sehen, dass die Kurve – jetzt! – abfällt, und zwar rapide. Es ist eine Durchschnittskurve. Der Effekt ist unter anderem geschlechts-, entwicklungs- und umweltabhängig. Aber eines können wir wissenschaftlich fundiert sagen: Bei fast allen Jugendlichen lässt die Leistung etwa zwischen den Klassen acht bis zehn erheblich nach. Sie kennen das vielleicht von Ihrem eigenen Sohn oder Ihrer eigenen Tochter: Das bislang strebsame, schulbegeisterte Kind hat plötzlich Probleme. Die Noten werden schlechter. Das Lernen wird zur Qual. Vokabeln gehen verloren, obwohl sie zuvor parat waren. Die Kinder konzentrieren sich nicht mehr auf die Matheformel, die sie längst beherrscht hatten. Ich habe das bei meinen eigenen Söhnen erlebt.«
Einige im Saal legten unbewusst die Köpfe schräg.
» …
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