Jung genug zu sterben
und stieg weiter. Unmittelbar hinter der Kurve war der Bahnhof. Abgesehen von einem Abstellgleis und ebenerdigem Bahnsteig bestand er aus dem Gasthof, der zugleich Restaurant, Hotel und Bahnhofshalle war. Es was das wichtigste Gebäude des Ortes. Der Ort bestand aus vier Gebäuden.
Der Zug 15 : 07 Richtung St. Moritz führte diesmal nur zwei Waggons, außerdem drei Wagen mit Baumstämmen. Die Zugfolge wurde jeden Tag nach Bedarf zusammengestellt. Aufenthalt: zwei Minuten. Der Lokführer und die Kondukteuse, die einen schwarzen Cowboyhut trug, grüßten Riccarda und traten mit ihr in die hölzerne Gaststube. Sie ließ den beiden den Vortritt, denn sie wusste, dass sie Espressi bestellten, ein, zwei gemütliche Sätze sagten und dann, als hätten sie alle Zeit der Welt, wieder hinaus schlenderten und auf den Zug stiegen, noch ehe die Schweizer Präzisionszeiger der Bahnhofsuhr die zweite Minute abgeschlagen hatten.
Die Wirtin unterhielt sich mit Gästen, das restliche Personal bediente auf der Außenterrasse. Aber Riccarda wusste, was sie zu tun hatte. Sie kontrollierte als Erstes, ob im Lager etwas fehlte. Dann nahm sie die Steinstiege nach oben, die für sie so aussah, als sei sie in den Fels gesprengt. Ein kleines Fenster wies auf den Bahnsteig. Im Personalraum zog sie sich für den Dienst um.
Sie nahm den Belegungsplan. Die letzten Logiergästewaren am Vormittag abgereist. Man erwartete auf der Alp Grüm eine Gruppe Wanderer. Riccarda ging in eines der Zimmer. Sie sah sofort, dass die Betten bezogen werden mussten. Zuerst jedoch öffnete sie weit das Fenster. Unter ihr Bäume. Vor ihr: der Palü-Gletscher.
Heute hatte er schon wieder eine andere Farbe. Er war grau und kam nur fadenscheinig aus den Nebelschwaden hervor. Das Rauschen klang auch jedes Mal anders, mal wie ein Glucksen, mal donnerte es. Zu sehen war bei diesem Wetter keiner der Wasserfälle. In den letzten Wochen war Riccarda auf neun kleine Wasserfälle gekommen, die man mit guten Augen von den Zimmern aus sehen konnte.
Sie bezog die Betten, säuberte das Waschbecken und erinnerte sich daran, dass man es hier
Lavabo
nannte. Sie kontrollierte den Zustand des Gemeinschaftsbades auf dem Flur. Sie ging durch alle Zimmer und tat überall, was notwendig war. Unten, am Eingang des Restaurants, sah sie das Informationsmaterial durch. Manches war abgelaufen, anderes unsortiert.
»Ah, Riccarda!« Die Wirtin begrüßte sie mit Handschlag. »Eine neue Bluse? Hübsch! – Wenn Sie nachher den Schüttstein übernehmen? – Den Abwasch an der Spüle, meine ich. – Nehmen Sie einen Kaffee und ruhen Sie sich aus. Denn wir erwarten heute Abend eine Tafel mit 40 Erwachsenen und vielen Kindern. Wir brauchen jede waffenfähige Frau!«
Der Computer in der Ecke neben dem Tresen war frei. Man hatte ihr sogar einen eigenen, alten Rechner aufs Zimmer gestellt, doch dieser hier war jetzt näher.
Riccarda sah sich die Website der Alp Grüm an. Das gehörte nicht zu ihren Aufgaben, aber es konnte nicht schaden, auch hier immer mal wieder nach kleinen Unstimmigkeitenzu schauen. Außerdem konnte sie per Passwort bequem ihre Mails abrufen. Mit einigen Jugendlichen hatte sie sich angefreundet, wenn sie für eine oder maximal zwei Nächte im Gruppenraum schliefen. Ein paar »Fans« hatte sie, die mailten ihr jetzt regelmäßig. Die Geschäftsleitung wusste davon und buchte es unter
Stammkundengewinnung
ab.
Allerdings war unter den Kontakten in den letzten Tagen auch etwas Merkwürdiges gewesen. Eine Lena aus Berlin hatte sich an Riccarda erinnert. Sie gehörte offenbar zu einer der Gruppen, die regelmäßig von einer Organisation namens PALAU geschickt wurden.
Lena hatte sie erstmals angerufen, als sie in Tirano war und ihrem Vater dabei half, den Komposthaufen von einer Ecke des Grundstücks in die entgegengesetzte zu verlegen.
Es ginge um eine lebenswichtige Sache. Eine Datei müsse an zwei Personen weitergeleitet werden. Nichts daran sei illegal oder verwerflich. Das schwöre sie bei allen heiligen Eidgenossen. – Riccarda nahm an, dass Lena keine Ahnung hatte, was Eidgenossen sind. – Aber sie mochte sich der Bitte Lenas auch nicht entziehen. Was sollte schon passieren? Riccarda wusste, dass einer der Adressaten Lenas Vater war. Lena war auch so ehrlich gewesen, Riccardas Frage, ob es ein Scherz oder eine Überraschung für ihren Vater sei, zu verneinen.
»Es ist ernst«, hatte sie gesagt. »Aber je weniger du weißt, desto besser.«
Sie könne die
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