Jung genug zu sterben
angesehen. Und zwar genau. Und nicht nur Ihre!«
»Und? Was gelernt?«
»Joho, kann man sagen! Zum Beispiel habe ich gelernt, wie man billig an Testpersonen herankommt. Die nicht kapieren, was mit ihrem Schädel angerichtet wird. Und die vielleicht eines Tages aus heiterem Himmel umkippen und tot sind.«
»Dann haben Sie hoffentlich auch gelernt, wie viele Familien sich dort auf einmal Medizin leisten können, Bücher für die Kinder, eine Nähmaschine für die Mutter. Und die alle, auch die Testpersonen, mit dem Programm ein besseres und längeres Leben haben, sofern sie nicht vom Lastwagen überfahren oder vom letzten Löwen in Afrika verspeist werden.«
»Ich sehe es vor mir«, sagte Kraniotakes und holte mit den Armen aus:
»Professor Dr. Dr. med. Eugen Lascheter –
Retter der Afrikaner. Bestrahlte zwei Jahre lang unsere Gehirne, weil er das in Europa nicht durfte. Er tat zu unserem
Wohl und seiner Ehre, was überall sonst auf der Welt streng
verboten war. Heil und Lob ihm!«
»Sie wissen nicht das Geringste von den mikroinvasiven Eingriffen, die wir dort vorgenommen haben. Ich gebe Ihnen mal einen richtigen und zwar wissenschaftlichen Bericht meiner Arbeit. Lesen Sie das und nicht Ihre geklauten Readers-Digest-artigen Versionen aus dem Internet. Wir haben dort unten eine Grundlagenforschung angestoßen, auf die die Hirnforschung der kommenden Jahrzehnte aufbauen wird.«
»Ach, heben Sie sich den Murks für Ihre Rede in Stockholm auf! Ich sag es rundheraus, ob es Ihnen gefällt oder nicht – und ich sage es nur unter vier Augen, darauf können Sie sich verlassen: Für mich sind Sie ein Arzt, der bei den Nazis Grundlagenforschung betrieben hätte. Es gibt keinen moralischen Unterschied zwischen einem Doktor, der Menschen in Eiswasser wirft und misst, wann der Tod eintritt, und einem, der die Köpfe Unschuldiger markiert und mit Strom manipuliert.«
Lascheter lächelte. »Das ist primitiv. Ich habe nichts
mit
Strom manipuliert.
Sie sprechen wie ein Reporter. Sie sind angeblich einer der führenden Neurologen. Was soll die billige Polemik? Wenn Sie mehr nicht zu bieten haben, lassen wir das hier sein! – Guten Tag!«
Kraniotakes sah dem barhäuptigen Lascheter nach, schüttelte den Kopf und nahm seine Pilotenkoffer.
Lascheter wählte den Lift.
Zucker, der senile Trottel, macht meine Podiumsdiskussion ohne mich. Der lässt sich was einflüstern, ist manipulierbar. Kraniotakes hat sich über Burundi und Zaïre informiert. Wozu? Will er mir nur schaden, durch übleNachrede? Oder ist er tatsächlich an Ergebnisse herangekommen?
Ich muss aufmerksamer planen und strategischer vorgehen. Sonst sind die Handlungsspielräume des Instituts eingeschränkt. Und meine auch.
23
Sie sah aus dem Fenster. Kiefern im Nebel, zum Greifen nah. Schemenhafte Elfenkönige.
Riccarda öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus in den leichten, feuchten Fahrtwind. Es war viel kühler als eben noch unten in Tirano. Der Zug ging in eine Kurve und nahm Zuflucht unter einem Holzverschlag, einer Galerie, die vor Steinen und bei Schnee vor Lawinen schützte.
Dienstags und mittwochs begann Riccarda erst zur Nachmittagsschicht auf der Alp Grüm. An beiden Vormittagen half eine Studentin aus Graz in dem Gasthaus aus, aber Riccarda hoffte, nach den Semesterferien die ganze 4 0-Stunden -Stelle zu bekommen.
Es waren einfache Arbeiten: die Gästezimmer fegen und wischen, die Laken und Handtücher waschen, bei der Übernahme der Lebensmittel vom Zug helfen und die Müllsäcke auf den Morgenzug zu werfen. Aber es war eine gute Arbeit. Nette Wirtin, solide Bezahlung. Besser als alles, was sie unten in Italien, in Tirano je machen durfte.
Die Fahrt durch das Puschlavtal hinauf dauerte eine Stunde. Sie wusste, dass andere Menschen täglich in überhitzten Straßenbahnen pendeln mussten, in vollen U- und S-Bahnen , oder im Auto durch stockenden Großstadtverkehr, wo sie noch nicht einmal etwas während der Fahrt lesen konnten. Sie hingegen durfte durch eine der schönsten Landschaften Europas fahren. Mit einem Paar Gummihandschuhen im Gepäck, aber was machte das? Die Bahn brachte sie von Tiranos Straßen einen Kilometer höher,durch Haine und Wiesen mit Kühen, durch Wald – und heute durch dichten, weißen Nebel.
Das letzte Stück zur Alp Grüm hinauf mochte Riccarda besonders. Durch die Nadelbäume sah sie, dass sie unterhalb des grauen Felssteingebäudes entlangfuhren. Die Schmalspurbahn legte sich in eine enge 18 0-Grad -Kurve
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