Jung genug zu sterben
mittelalterlich: Setzt ein Teil aus, wird er herausgeschnitten oder vorübergehend deaktiviert, erkennt man im Umkehrschluss seine Funktion. Das Institut hat auch jahrelang die Multiple Sklerose erforscht – nicht aus Selbstzweck, sondern weil sie Aufschluss bringt über Myelin. Das Myelin umwickelt Nervenleitungen im Körper, es bildet aber auch die für das erwachsene Gehirn besonders wichtige weiße Masse.»
»Mir brummt der Schädel … «
Melina wartete einen Moment. »Ich habe Sie nicht nur hergebracht, um Ihnen Lenas Wirkungsstätte zu zeigen und unsere Arbeit zu demonstrieren.«
»Richtig, da war noch was.«
»Ich wollte Ihnen Lena zeigen.« Sie nahm die Fernbedienung zur Hand, die sie voreilig abgelegt hatte, und schaltete beide Monitore ein. »Ich habe Lenas Tests, soweit wir sie filmisch dokumentiert haben, herausgesucht. In den Monaten ihres Jobs bei uns sind an die 75 Minuten Material angefallen. Ich hab’s zusammengestellt und möchte Sie bitten, sich das anzusehen.«
Jenissej richtete sich in dem Sessel neu ein. »75 Minuten? Und man sieht Lena?«
»Ja, nur sie. Das ist Verschlussmaterial. Ich darf es natürlich niemandem zeigen.«
»Ich sehe mir Lena gern an. Aber was soll das helfen?«
Er will nicht. Dieses Rindvieh will einfach nicht.
Melina kämpfte mit der Beherrschung.
Jenissej musste lächeln. »Was ist?«
Melina machte aus ihrem Zorn einen zusammengepressten, langsamen Satz: »Sie sehen sich das jetzt an.« Die Fernbedienung gehorchte nicht. »Sie sind Medienexperte. Sie können aus Lenas Verhalten vielleicht etwas herauslesen.«
Herauslesen? Was glaubt die? Ich bin doch kein Spurenleser.
Anderthalb Stunden folgte er Lenas Antworten, die sie während verschiedener Tests gegeben hatte. Die Haare waren pechschwarz, dann hatten sie blonde Strähnen. Rote. Blaue. Lena war gelassen, ein andermal gelangweilt. Nervös. Fahrig. Einmal stellte sie die Fragen. Jenissej saß vornübergebeugt auf dem Sessel. Vor dem Sessel. Er stand vor demBildschirm. Hockte. Und lümmelte schließlich wieder im Polster.
Gab es etwas, das ihm aufgefallen war, fragte Melina ihn. Sah er etwas, das auf Lenas Verschwinden und auf ihre Videodateien deutete?
»Nein, Melpomene. Nichts. Gar nichts.«
»Sind sie immer noch drin?«
»Ja. Zuerst gingen sie kreuz und quer durchs Gebäude. Jetzt sitzen sie im K3. Was sie machen, weiß ich nicht.«
»Gut, geben Sie mir Bescheid, wenn sie rauswollen.«
Als Melina und Jenissej das
Institut Zucker
verlassen wollten, strömten aus drei Türen Männer und Frauen in schwarzblauen Jacken. »Einen Moment! Frau von Lüttich? Warten Sie! Und der Herr mit Baseballcap – wer sind Sie?«
33
Die wichtigste Erkenntnis, die Hauptkommissar Lothar Melchmer aus Lenas Filmdateien zog, war die Tatsache, dass sie seinen Laptop abstürzen ließen.
Ein drittes Mal wollte er es nicht riskieren. Auf den Dienstcomputern liefen sie sowieso nicht. Auf den heimischen PC spielte sein Sohn bei jedem seiner seltenen Besuche neue Software oder schraubte an den Platinen herum. Melchmer verstand nie, worum es dabei ging, aber jetzt konnte er sich eine
F3L
-Datei ansehen.
Der Sohn bringt dem Vater etwas mit und bockt wortlos den Computer auf. So müssen wir wenigstens nicht die ganze Zeit miteinander sprechen. Und streiten. Die Jungen bringen die Alten auf den neuesten Stand, damit verstärkt sich die Abhängigkeit. Das Rollenverständnis dreht sich. Erst aufpassen, dass Söhnchen seine Schularbeiten macht, und plötzlich ist er der, der alles besser weiß. Die einzig brauchbare Software war die für den Steuerausgleich.
Im Nachtfilm hielt ein schwarz-weißer Kirk Douglas Ansprache, Melchmer ignorierte ihn.
Auch Lenas Flackerbilder liefen, ohne dass Melchmer an etwas hängenblieb.
›Beamte zahlen sowieso keine Steuern.‹
›Du Torfnase, wie kommst du auf so einen Quatsch? Ich zahle über zehntausend. Vom Soli und der Mehrwertsteuer mal abgesehen. Übrigens, du Held, auch Pensionäre zahlen Steuern.‹
›Ich werde bei meinen Kommilitonen für dich sammeln.Wieso trittst du nicht aus der Kirche aus? Dann hast du auf einen Schlag mehr und kannst dir einen richtigen Computer zulegen.‹
Immer das gleiche. Wenn wir reden, dann so was. Das letzte Mal habe ich ihn vor – zwei Monaten gesehen. Und Melanie ist auch schon drei Wochen auf Kur.
Er entschloss sich zu einem Schnitt. Schaltete den Fernseher aus. Suchte Radiostationen durch und blieb bei den Stones hängen. Dann der
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