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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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benötigt, sie müssen nicht auf der Festplatte gespeichert werden. Zum Beispiel ist es hilfreich, dass ich mich an den Anfang eines Satzes erinnern kann, während ich mich seinem Ende nähere. Trotzdem werde ich den Satz als solchen, in seiner präzisen Struktur schon ein, zwei Zeilen später vergessen haben, kann mich aber an seinen Inhalt erinnern.«
    »Hesther konnte schon bald nicht mehr lesen. Das habe ich nicht verstanden: Weshalb konnte sie sprechen, aber Wörter nicht mehr lesen?«
    »Oft schlägt es sich auf beides nieder«, sagte Melina und pflückte einen Klebezettel vom Computer. »Das Lesen ist für das Gehirn ein besonders komplizierter Vorgang. Interessanterweise sind wir dabei gar nicht so sehr auf die Buchstabenund ihre Reihenfolge angewiesen, wie man glauben könnte. Das Gehirn gleicht alle Ungereimtheiten sehr schnell aus. Hier, das ist eine Leseprobe, an der ich das gern demonstriere.«
    Jenissej nahm den Zettel entgegen. Darauf stand:
    Einen nromalen Txet knönen wir ofefnbar acuh dnan
imemr ncoh sher gut lseen und vresteehn, wnen die eiznelnen
Bucshtaben in den Wrötern vertuascht snid. Tortz Choas ist
flüssiegs Lseen möglcih. Enstcheiednd ist allien, dass die ertsen
und leztten Buhcsatben so snid wie in nromalen Wörtren.
    »Ja, erstaunlich.«
    »Aber wir waren beim Arbeitsgedächtnis«, sagte sie. »Das brauchen wir zum Lösen jeder Aufgabe.«
    »Und woher weiß das – gesunde – Gehirn, dass es einen Satz nur ganz kurz speichern muss und quasi löschen kann, während es ja nicht so gut ist, einen Satz zu vergessen, wenn jemand sagt:
Ich liebe dich
  …?
    Sie lächelte und schaltete den Bildschirm ab. »Das ist das Geheimnis. Das Gehirn ist offenbar ein sehr effizientes Entscheidungssystem. Und diese komplizierten Dinge drängen nicht mal in unser Bewusstsein. Eines kann man wohl sagen: Ein Satz oder ein Ereignis behalten wir offenbar dann besonders gut, wenn wir damit von Anfang an ein starkes Gefühl verbinden.
Ich liebe dich
kann man kaum vergessen, weil der Körper darauf reagiert. Oder ich erinnere mich an eine riesige Spinne in der Badewanne, als ich fünf Jahre alt war – denn da war die Angst. Dabei ist diese eine Spinne in meinem Leben völlig unwichtig. Wir behalten Dinge vermutlich nicht nach Wichtigkeit sortiert, sondern nach emotionaler Bedeutung. Neben Gefühlen sind Gerüche besonders prädestiniert. Ein bestimmter Geruch in meiner Nase, und ich erinnere mich an einen Nachmittag beim Kinderzahnarzt.An dem Tag hat er mich gar nicht behandelt, es war also unwichtig. Aber da lief eine Bohnermaschine   … Wir wissen noch nicht, weshalb ausgerechnet Gerüche so intensive Langzeiterinnerungen auslösen – zumal es, wie gesagt, völlig unwichtige Augenblicke sein können.«
    Jenissej grinste. »Melina, Melina   … «
    »Hm? Was denn? – Wieso
Melina
und nicht
Melpomene

    »Melpomene   … Nein, das bist du gerade nicht. Du bist Ärztin. Forscherin. Warum machst du nicht weiter mit dem Medizinstudium?«
    Sie schlug die Augen nieder, legte die Fernbedienung für die Bildschirme ins Regal zurück und rückte ihren Stuhl zurecht.
    »Entschuldigung«, sagte Jenissej. »Ich ziehe die Frage zurück.« Er räusperte sich. »Hesther   … Immer wenn ich an sie denke, kommt mir zuerst ein Nachmittag in der Klinik ins Gedächtnis. Die Sonne schien durchs Fenster, sie hatte einen kleinen Balkon   … Wir beide lagen nebeneinander auf dem Bett. Quer, angezogen, auf dem Bauch   … Sie erzählte mir, was sie erlebt hatte. Ich nannte es ihre
Reisen
. Ihr gefiel der Begriff, jedenfalls an diesem Nachmittag, als es ihr ziemlich gut ging. Sie hatte noch eine Ahnung, dass vieles von dem, an das sie sich erinnerte, nicht stattgefunden haben dürfte. Aber mit dem Wort
Reisen
war so eine Zwischenebene zwischen Wirklichkeit und Traum oder Geisteskrankheit getroffen. Hesther erzählte von Leuten, die zu ihr sprachen, sie könnte sie hören, aber nicht sehen. An diesem Tag lag sie neben mir, ihr Gesicht so schön wie immer, im Licht der offenen Balkontür   … Und sie nahm mich mit auf ihre Reise. Es war   … Mir war unwichtig, ob es real war oder nicht. Sie erzählte von Landschaften und von merkwürdigen Gestalten, die sie sah. In jeder Kleinigkeit stecktenGeschichten und Bedeutungen. Es war das erste und einzige Mal, dass ich das Gefühl hatte, gemeinsam mit einem Menschen zu
träumen
. Kein Tagtraum, ein echter Traum.« Er lachte. »Und das ohne Drogen.
Ich
jedenfalls. Sie bekam ja

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