Jung genug zu sterben
Folter spannen. Bevor ich auf das Missverständnis von gestern Abend eingehe, möchte ich Ihnen die wichtigste Nachricht zuerst zukommen lassen. Sie ist leider nur teilweise erfreulich.«
Melina saß unbeweglich. Die Atmung gepresst.
Jenissej ließ die Fingerkuppen auf den Lehnen der Stühle neben sich tanzen.
»Wir wollen alles daran setzen, Ihnen bei der Suche nach Lena zu helfen. Bedauerlicherweise ist uns ihr Aufenthaltsort nicht bekannt. – Ein Aspekt, der für Sie neu sein wird, ist folgender: Wir können bestätigen, dass Lena die Reise nach Graubünden mitgemacht hat.« Sie schaute auffordernd zu Müller.
»Ja, genau. Ich habe hier eine Einverständniserklärung von Ihnen, Herr … ähm.«
»Jenissej.«
»Ja … Also, ist das Ihre Unterschrift?«
»Nein, es sieht wie meine aus. Aber ich habe das nicht unterschrieben.«
»Das dachten wir uns«, sagte Müller. »Jedenfalls im Nachhinein. Die Gruppe – oder genauer: die Gruppenleitung – hatte eine Auseinandersetzung mit Ihrer Tochter. Sie drohte daraufhin, ihrer eigenen Wege zu gehen, und ohne dass man sie letztlich zurückhalten konnte, machte sie sich auf den Weg. Das Problem dabei war … also, das
weitere
Problem war, dass dieser Konflikt zeitgleich stattfand mit dem Unfall eines Jungen in der Gruppe, Jan Sikorski. Der Junge ist später an den Folgen tragischerweise sogar verstorben, vielleicht haben Sie das gelesen. Meine Kollegen waren im ersten Schritt der irrigen Ansicht, es wäre besser, Lenas Anwesenheit zu leugnen. Sie dachten sich: Wenn jemand fragt, wo Lena sei, könnten sie es nicht erklären. Sie müssen wissen, dass wir im vergangenen Jahr schon einmal einen Unglücksfall ähnlichen Ausmaßes hatten – damals hatten wir die Staatsanwaltschaft hier und natürlich die Eltern des Jungen, die uns verklagt haben. Wir haben obsiegt, aber der Schock sitzt uns freilich noch in den Gliedern. Aus diesen Erwägungen heraus entschlossen sich die Gruppenleitung und meine Kollegen, die Teilnahme Lenas an der jetzigenGruppe nicht zu erwähnen. Das ist selbstverständlich unprofessionell und in gar keinem Fall hinnehmbar. Insbesondere für Sie nicht, Herr Jenissej.« Müller rückte sein Jackett zurecht. »Für Sie wird es kaum von Belang sein, aber ich möchte erwähnen, dass mein Vorgänger im Zuge dieser Angelegenheit gestern von seiner Tätigkeit entbunden wurde. Ich bin seit zweieinhalb Jahren sein Stellvertreter und nun – notgedrungen – bereits der Nachfolger. Dieser Schritt war ursprünglich erst in acht Monaten vorgesehen. Ich unterstütze nachhaltig den Kurs der Transparenz, den Frau Bahr für das
Institut Zucker
apostrophiert.«
»Milch?«, fragte Bahr. »Zucker?«
Jenissej lachte, die Pressesprecherin war irritiert.
Sie sagte: »Wir sind sehr interessiert, Lenas Aufenthaltsort zu erfahren, da sie offensichtlich nicht bei Ihnen oder anderen Verwandten ist. Bitte helfen Sie uns.«
Wir
sollen
ihnen
helfen?, fragte sich Melina.
»Beziehungsweise umgekehrt«, fügte Müller ein.
»Trifft es zu«, fragte Melina, »dass man den Jugendlichen zunächst aufgab, sie sollten nichts über Lena sagen?«
Elke Bahr lächelte angestrengt. »Wie gesagt.« Sie musste überlegen. »Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde in der Schrecksekunde des Unfalls gesagt, sich so über Lena zu äußern, wie Herr Müller es dargestellt hat. Ich kann den Ansatz nachvollziehen, aber ich teile ihn ganz und gar nicht. Die Verantwortlichen wurden sanktioniert, und wir entschuldigen uns in aller Form bei Ihnen. Gleichwohl bin ich der Ansicht, nun sollten wir all unsere Augen auf die Zukunft richten und uns fragen, wo Lena ist und ob sie unsere Hilfe braucht.«
Jenissej sagte: »Wir haben eine Datei … «
Melina schlug mit ihrem Knie gegen seines. »Ja. Wirhaben eine Datei gefunden … «, sagte sie, ohne zu wissen, wie sie den Satz beenden konnte. »Sie enthält Namen aller Verwandten und vieler der Freundinnen und Freunde Lenas. Wir haben alle durchtelefoniert, aber da war nichts zu machen.«
Bahr und Müller nickten und sahen auf den Vater, der nun mit einem Pokerface die Kaffeekanne begutachtete.
»Wieso entschuldigen
Sie
sich?«, fragte Melina in Richtung Elke Bahrs.
»Im Namen des Instituts.«
»Schon. Aber was hat das Institut mit der PALA U-Gruppenreise zu tun?«
»Sie kennen unser Institut ein bisschen, Melina. Dann sagt Ihnen bestimmt auch der Name Professor Lascheter etwas?«
»Ja … «
»Die Gruppe bestand diesmal
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