Jung genug zu sterben
ist das, wie wir die Welt um uns herum sehen.«
»Der Regisseur.«
»So etwa. Wenn die Übertragungen in diesem Bereich nicht funktionieren, dann wird unser gesamtes Verständnis von der Welt schief.«
»Logisch.«
»An die Dornen der Dendriten müssten sich andere Neuronen anschließen, aber es gibt eben bei Schizophrenen weniger davon. Die Kandelaberzellen … – Also, man muss unterscheiden zwischen Pyramidenzellen, Kandelaberzellen und Armleuchterzellen … «
»Warte, warte! – Das geht mir zu weit, dafür ist mein Spatzenhirn nicht ausgelegt! Das Prinzip habe ich kapiert: Rauschen auf allen Leitungen, die Regie kriegt die Sache nicht in den Griff und sendet ein verkorkstes Bild nach draußen. Richtig? – Diese Störungen sind vielleicht schon mit der Kindheit da, kommen aber langsam mit der Pubertät, eigentlich erst beim Erwachsenen, wenn es zu spät ist. Ja? – Wenn ihr die Hirne von Kindern scannt, ist von Schizophrenie nichts zu sehen. Bei Pubertierenden ist sowieso alles im Umbau. Eure Technik bringt also in dem Fall nichts. Es gibt wenige tote Jugendliche, an denen ihr herumschnippeln könnt. Also müsst ihr sie befragen.«
»Ja und nein. Es gibt technische Methoden. An der Columbia University versuchen sie gerade zu klären, ob ein bestimmter Neurotransmitter verantwortlich ist für mangelnde Vernetzung des präfrontalen Kortex. Da kann man mit Hirnscans arbeiten. Der Neurotransmitter ist das Dopamin. Komischerweise haben Schizophrene davon im Überfluss.«
»Ist das nicht das Zeug, das in Schokolade steckt?«
Melina lachte.
»Ich meine, so ein Glücksbringer?«
»Na ja, nicht ganz … «
Jenissej wurde wieder ernst. »Wie laufen diese Befragungen, die Lena durchgemacht hat? – Aktiv und passiv, wenn ich recht verstehe.«
»Zunächst mal haben wir keine Frage gestellt, sonderndie Jugendlichen gebeten, etwas zu zeichnen. Egal was. Eine Stunde hatten sie, saßen allein im Raum, und wir sagten ihnen, dass außer den wissenschaftlichen Mitarbeitern niemand das Ergebnis zu sehen bekommt. Was auch stimmt. Oder besser: Niemand von außerhalb wird Zeichnung und Person miteinander verknüpfen können. Das ist wichtig, weil die Jugendlichen vor allem fürchten, wegen einer Zeichnung von ihren Altersgenossen ausgelacht zu werden.« Sie zeigte am Bildschirm eine solche Zeichnung. »Was sagen Sie hierzu?«
Jemand hatte mit Kugelschreiber einen Baum gemalt. Die Verästelungen waren bis ins Detail ausgeführt, wobei die Äste sich an den Enden bogen. Einige Zweige sahen aus wie Mandelbrot-Männchen mit immer weiter differenzierten Fraktalen. Dazwischen waren Sprüche gequetscht, jede freie Stelle war gefüllt.
Römer und Griechen nannten mich den
Traumgott. – Gibt es hier keine Rosen? – Der Wald trieb
grüne Knospen. – Und das Volk, das sah, was geschehen war,
verneigte sich vor ihr wie vor einer Heiligen.
Alle i-Punkte waren exakte Kreise, einige ausgemalt, andere nicht.
»Da hat es jemand sehr genau genommen.«
Melina vergrößerte einen Ausschnitt. »Dies ist eine Malweise, die für Schizophrene typisch ist.«
»Hm. Pia hat so was Ähnliches gemacht. Nicht das mit den i-Tüpfelchen, aber sie hatte eine Phase, in der sie ihre Schriftkunst mit Blattwerk und Ästen durchwob.«
»Das ist das Problem. Die Malweise
kann
ein Indiz für Schizophrenie sein, sie kann aber einfach auch auf Phantasie und einen bestimmten Stil zurückzuführen sein. Es war eine Dreizehnjährige, die den Baum gezeichnet hat. Frau Dr. Schurz nahm zunächst an, dass die Texte keinerlei Zusammenhang aufweisen. Ich habe sie in Suchmaschineneingegeben und bin auf Andersen gestoßen. Alles Zeilen aus Hans Christian Andersens Märchen. Wenn auch keine Kernsätze. Das Mädchen muss die Geschichten auswendig kennen. Allerdings haben wir trotzdem keinen logischen Zusammenhang gefunden. Viele junge Mädchen leben in einer Traumwelt.«
»Das ist nicht krankhaft.«
»Richtig. Deshalb reicht ein einziges Indiz dieser Art nicht aus. Wenn wir auf eines stoßen, intensivieren wir die Suche. Ein zweiter Schritt ist die Prüfung des Arbeitsgedächtnisses. Das war Lenas Hauptaufgabe. Sie hat fast zweitausend Testpersonen verschiedene Aufgaben vorgelegt. Man weiß, dass das Arbeitsgedächtnis bei Schizophrenen schwach ist.«
»Was ist das Arbeitsgedächtnis? So was wie ein Arbeitsspeicher im Computer?«
Melina nickte. »Genau. Das ist unser kurzfristiges Erinnerungsvermögen. Die Informationen werden nur vorübergehend
Weitere Kostenlose Bücher