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Jung genug zu sterben

Jung genug zu sterben

Titel: Jung genug zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Liemann
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ihre Medikamente. Als ich die Augen öffnete, war die Sonne fast untergegangen. Wir hielten unsere Hände. Ich merkte, dass ich geheult hatte, der Hemdkragen war nass. Und sie hatte auch geweint. Ich   … Sie sah mich an, und da war eine Sekunde, der Bruchteil einer Sekunde, in dem ich glaubte, dass sie mir mit ihrem Blick ›Auf Wiedersehen‹ sagte, ganz bewusst. Und es war wirklich so, dermaßen nah und klar war sie nie wieder, als ich da war. Die Frau, die ich   … – Entschuldigung, diese eine Sekunde ist die einzige Erinnerung, bei der ich immer wieder anfange   … Sie war weg. Ich besuchte Hesther immer wieder, doch die Frau, die ich liebte, war in dieser Sekunde weggegangen   … «
    Melina wollte etwas sagen, aber alles erschien ihr unpassend.
    »Was in diesem gemeinsamen Traum passierte«, sagte Jenissej, »war unglaublich. Ich frage mich bis heute, wie sie uns da allein durch ihre Stimme hindurchgeführt hat. Frei assoziiert, wild, komplett irre – und schön.«
    »Na ja   … «, begann Melina vorsichtig. »Das ist außergewöhnlich. Allerdings ist bekannt, dass bei schizophrenen Patienten der vorhin erwähnte präfrontale Kortex ausgeschaltet ist. Also der alles kontrollierende Verstand. Es ist ungefähr derselbe Zustand, den wir im Schlaf erleben: Das Gehirn arbeitet weiter, aber unsere Kontrollinstanz hinter der Stirn macht Pause. Deshalb können die Gedanken im Schlaf frei assoziierend springen, ohne Zensur. Das sind die Träume. Es ist also nicht überraschend, dass das, was Ihre Frau Ihnen an jenem Tag beschrieb, einem Traum ähnelte.«
    »Der präfrontale Kortex ausgeschaltet   … So einfach ist das?«
    »Dasselbe Phänomen haben Sie beim Joggen.«
    »Beim Joggen?« Jenissej lachte.
    »Das Gehirn schaltet in einen Sparmodus. Alles konzentriert sich auf die Bewegungsabläufe. Deshalb fällt es Joggern schwer, beim Laufen konzentriert nachzudenken.«
    »Sport macht blöd.«
    »Nein, das nicht gerade. Nur im Moment der körperlichen Leistung. Viele Menschen joggen ja genau wegen dieses Effekts: Sie fühlen sich
im Hier und Jetzt

    »   … weil der Verstand abgeschaltet ist. Deshalb dieses Gefühl von Präsenz? – Lustig!«
    »Ja.«
    »Ich habe noch eine Frage, Melina. Als Hesther die ersten Symptome ihrer Krankheit zeigte, hatte ich das Gefühl, sie koppele sich ab aus unserem Leben. Ich dachte, das ist eine Art Autismus. Ein Arzt, den ich fragte, benutzte dieses Wort. Gut, es war ein Internist, aber   … Ist Schizophrenie mit Autismus zu vergleichen?«
    Melina überlegte. »Nein. Ein autistischer Mensch fokussiert seine Aufmerksamkeit auf ein Detail. Er beginnt sich für einen Knopf an Ihrem Hemd zu interessieren, schaut ihn an und ist von ihm eingenommen. Es kann sein, dass dieser Mensch weder das Hemd als Ganzes wahrnimmt noch Sie als Gegenüber. Manche Autisten sind nicht ansprechbar, ihre Sinne befassen sich mit dem Knopf. – Schizophrene versuchen hingegen, in unbedeutende Kleinigkeiten große Dinge hineinzugeheimnissen. Die Tatsache, dass es ein Hemdknopf aus Metall ist, könnte einen schizophrenen Patienten an eine Verschwörung glauben lassen, denn so einen hat er schon einmal bei einem anderen Menschen gesehen,der ein Bösewicht zu sein schien. Vielleicht sind ja Metallknöpfe ein verstecktes Erkennungszeichen für die Macht des Bösen. – Es ist eine komplett gegensätzliche Informationsverarbeitung zu der der Autisten.«
    »Daraus entwickelt sich dann auch Verfolgungswahn?«
    »Richtig. Oder andere Sorten wahnhaften Verhaltens. Hinzu kommt ein Informationsdefekt im Hirn der Schizophrenen. Klein, aber katastrophal: Viele können ihre Gedanken nicht mehr als ihre eigenen Gedanken identifizieren. Das Gehirn deutet die Gedanken so, als seien Quelle und Herkunft unbekannt. Vielleicht ist das der Grund für die sogenannten Stimmen, die diese Leute hören.«
    »Hesther und ihre Stimmen, ja, ja.«
    »Ich erinnere mich nicht«, sagte Melina. »Ich glaube, Autisten und Schizophrene haben trotzdem eine Gemeinsamkeit, es hat etwas mit der Hirnfrequenz zu tun, mit den Gammawellen. Aber ich müsste das nachlesen.«
    »Egal. Komischerweise haben die Ärzte das nie so erläutert.« Er holte Luft, als tauche er aus dem Wasser auf. »Oder ich war damals nicht in der Lage, ihnen zuzuhören. – Und das
Institut Zucker
erforscht in erster Linie die Schizophrenie?«
    »Nein«, sagte sie. »Aber anhand von Krankheiten und Ausfällen lernen wir viel über das Gehirn. Das ist noch immer

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