Jung im Kopf: Erstaunliche Einsichten der Gehirnforschung in das Älterwerden (German Edition)
die wir deutlich besser erinnern als andere.
Sie widersprechen in gewisser Hinsicht dem Dogma der Vergessenskurve (wir erinnern umso weniger, je länger ein Ereignis zurückliegt), und entsprechend leitet sich daraus die Frage ab, woher dieser Effekt kommt. Vor allem zwei Erklärungen werden diskutiert:
Die Erinnerungshöcker könnten biologisch bedingt sein. Man lernt mit 20 Jahren einfach am besten. Das Gehirn ist in diesem Alter besonders darauf eingerichtet, auf zellulärer Ebene die biochemischen Mitspieler der Gedächtnisspeicherung vorzuhalten. Das Gehirn könnte also in dieser Lebensphase besonders plastisch sein, also speichert man das in dieser Zeit Erlebte auch am besten.
Zusätzlich haben Dinge, die man zum ersten Mal macht, eine höhere Bedeutung und einen höheren emotionalen Wert als Tätigkeiten, die man zum wiederholten Male ausführt – der erste Kuss ist eben der erste Kuss, und es wird keinen weiteren ersten Kuss geben. Oder wie Walter Benjamin es mal ausgedrückt hat: »Laufen kann ich jetzt. Laufen lernen nicht mehr.« Es gibt eben im Alter von 20 Jahren mehr »erste Male« als im Alter von 40 Jahren, und das Gehirn ist für Neues mit 20 empfänglicher als mit 40 Lebensjahren.
Dazu passt auch eine Befragung, die man unter 276 Hundertjährigen durchgeführt hat. Sie sollten das aufregendste Erlebnis in ihrem Leben zeitlich verorten: 70 % dieser Ereignisse lagen vor dem 40. Lebensjahr, 30 % in den restlichen 60 Lebensjahren. Auch wenn Sie noch keine 100 sind, probieren Sie es doch selbst einmal aus: Welches war Ihr aufregendstes und bewegendstes Erlebnis? Und wann war das?
Andere Studien und Befragungen belegen, dass ältere Menschen sich darüber hinaus wie aus heiterem Himmel vor allem an Ereignisse zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr erinnern können. Plötzlich tauchen vor dem geistigen Auge Erlebnisse auf, von denen man Jahrzehnte lang nicht wusste, dass man sie je hatte. Ob man nun erstaunt über die Fülle der Erinnerungen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr ist oder erschreckt über das Ausmaß der Erinnerungslücken zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr, sei dem Leser selbst überlassen.
Dem Gedächtnis vertrauen
Für die Gedächtnisleistungen eines älteren Menschen sind nicht allein die organischen Voraussetzungen des Gehirns wichtig, sondern auch der schlichte Umstand, was man sich selbst noch an Leistung zutraut, wie die folgende Untersuchung beweist: Ältere Menschen (über 65 Jahre), die häufiger angaben, trübsinnig zu sein, weniger die Initiative zu ergreifen, Schlafprobleme zu haben oder lustlos zu sein, bestätigten auch häufiger, im Alltag unter Gedächtnisproblemen zu leiden. Sie waren generell besorgter und angespannter, hatten insgesamt weniger Vertrauen in ihr eigenes Gedächtnis und fühlten sich in ihrem Alltag stark eingeschränkt.
Die eigentlich aufregende Erkenntnis der meisten Studien aber ist: Die Personen, die über Gedächtnisbeschwerden im Alltag klagten, hatten gar keine, wenn man dies unter objektivierbaren Laborbedingungen untersuchte. Ihre Gedächtnisprobleme im Alltag entstammen eher ihrem Trübsinn, ihrer Depression und ihrem fehlenden Vertrauen in ihr Gedächtnis. So entsteht leicht eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Wer weniger von sich fordert, bekommt früher oder später auch recht. Der Mechanismus ist folgendermaßen: Man richtet die Aufmerksamkeit auf das, was schiefgeht, nicht auf das, was funktioniert. Aber auch die umkehrte, wiederum eventuell selbst erfüllende Prophezeiung zeigte sich bei den Probanden, die sich etwas zutrauten. Wer die Initiative ergriff, meisterte nicht nur die Gedächtnisaufgaben im Labor sehr gut (das hatten sie mit der negativ gesinnten Gruppe gemein), sondern sie bewältigten auch die Gedächtnissituationen des Alltags besser – und auf die kommt es an.
Wie aus kleinsten Bruchstücken Erinnerung wird
Erinnern wir uns wirklich an die Geschichte auf dem Foto, als wir mit unseren Schulfreunden im Garten saßen, so wie wir es einst in unseren jugendlichen Gehirnen abgespeichert haben? Oder haben wir die Geschichte schon so oft erzählt, das Foto schon so oft gesehen, dass wir uns eigentlich nur an die Erzählungen der Geschichte erinnern? Wie Studien gezeigt haben, ist sogar denkbar, dass uns jemand als Kind die Geschichte erzählt hat und diese erzählte Geschichte sich in eine eigene Erinnerung verwandelt hat. Und sind darüber hinaus unsere Erinnerungen vielleicht in Wirklichkeit nicht älter als der
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